Alter Schwede, auch dieses Jahr ist nun also an seinem Ende angekommen und inzwischen habe ich Zweifel, ob es irgendwann mal wieder etwas ruhiger wird. Konflikte in der Welt, eine nicht handlungsfähige Regierung und noch schlimmere Anwärter, unsägliche und zermürbende Diskussionen um Nichtigkeiten und unsere Katze Lotte, die die letzten Jahresrückblicke verzauberte starb. Außerdem neu im Programm: Ich schreibe meinen Jahresabschlussbericht aus einem der überfluteten Gebiete, der Deich neben mir schwappt quasi über vor Freude und ich möchte den Bericht irgendwie gerne abschließen, bevor der Strom abgestellt wird. Aber das soll hier alles nicht Thema sein, denn Musik, die eint und gibt (mir) Kraft und 2023 war ein solides Jahr.


##Gurkenparade##

Zunächst einmal bekommen die Gurken einen Platz in diesem Text und dieses Jahr fiel es mir erstaunlich leicht, die übelsten Tiefschläge zu benennen. Da wäre natürlich Xasthur, ein Album, das so viele Fragen aufwirft. Vor allem aber die Frage, ob hier irgendeiner der Beteiligten Lust hatte und an die Veröffentlichung glaubte, denn das belanglos dahingedudelte Stückwerk unfertiger Bootleg-Aufnahmen, das als vollwertiges Album in den Verkauf gebracht wurde ist … nicht gut. Aber auch Vulvanic haben mehr ein Erlebnis als ein Album herausgebracht und es ist kein schönes Erlebnis. Wer alles schönreden kann, sollte diese Sammlung kindlicher Provokationen ohne Ideen als Herausforderung sehen, alle anderen sollten weiterziehen. Anders als die beiden erstbenannten Gurken ist die Folgende als echtes Album echter Musiker mit echten Instrumenten und dem Vermögen, diese zu bedienen, zu erkennen. Was kann also schiefgehen? Man könnte als Band zum Beispiel nahezu alle eigenen Trademarks über Bord werfen, um Idolen in einer Form zu huldigen, die weniger Tribut als mehr Kopie ist. Denn wenn man quasi nichts verändert und sogar der Gesang versucht, dem Idol gleichzukommen, dann dürfen Käufer schon fragen, warum hierfür Geld gefordert wird und Musikinteressierte fragen sich, wie man auf diese Idee kommt (und ob man das als Idee bezeichnen kann). Höchstens als „Wetten daß?“ Wette nutzbar: Erkennen sie, ob es die Smiths sind oder doch die Spiritual Front. Und schließlich, und hier tut es mir leid und weh, kam die Stillste Stund zurück nach Jahren der Funkstille und all meine Freude, mein Hoffen, meine Aufregung waren nach einem Durchlauf versiegt und ich konnte nicht einmal einen Text verfassen, so wenig habe ich bei der EP gefühlt. Was war das genau? Und warum?


##Electro##

Also dafür, dass es sich um eine meiner liebsten Richtungen handelt und ich den Begriff Electro von Noise/Industrial, über Dark Electro bis hin zu Future Pop und Konsorten weit fasse, kam quasi nichts in diesem Jahr in die (digitalen) Regale, das ich erwähnen wollen würde. Zumindest VNV Nation lieferten ihre Standartkost auf hohem Niveau und Harsh R brachten alte EBM Muskeln zum Zucken und klangen schön roh und ungeschliffen. Am besten gefiel mir aber Blac Kolor, ein Album, das vor allem in der ersten Albumhälfte sehr geile Klangwelten aufbaute und mich immer wieder zur Rückschau und Neuentdeckung einlädt. Es ist aber auch gar nicht schlimm, dass ich nicht so viel Neues entdecken konnte in den künstlichen Welten, denn ich habe Calva Y Nada live gesehen und meine musikalische Welt bleibt nachhaltig erfüllt und beschwingt.


##Black Metal##

Kommen wir zum nächsten Lieblingsgenre mit geringer Ausbeute: Auch unter den Pandabären waren in diesem Jahr wenige erwähnenswerte dabei. Uada konnten mich mit ihrem straight eingetrümmerten Album ähnlich begeistern wie VNV Nation für ihren Sound. Es war ein sehr gutes Album, ich kann es mir immer Mal anhören, es wird sich aber mit der Zeit wahrscheinlich verflüchtigen. Ähnlich geht es mir mit der Rückkehr von Austere, das sich zwar seit der Rezension noch einmal in meiner Wahrnehmung steigern konnte, aber trotzdem nicht für die Ewigkeit sein wird. Wayfarer sind da mit ihrem Country Black Metal schon wesentlich nachhaltiger, wenn es um mein Interesse geht – wenn ich nicht so angespannt wäre, hätte ich diesem Album und der Band wirklich gerne ein paar Zeilen gegönnt, denn der Ansatz, die Ästhetik und der eigenständige Sound sollten viel Anklang finden.


##Dungeon##

Im Höhlensystem unter der Burg fand ich auch in diesem Jahr allerlei, weniges aber konnte mich so richtig umhauen. Ithildin haben einen weiteren Teil von ihrem Herbarium zur Pflanzenwelt Mittelerdes herausgebracht und manchmal sind es eben die leisen Töne, die verzaubern. Auch die Tales under the oak haben ein weiteres bezauberndes Kapitel hinzugefügt: Mehr vom sehr sehr Guten ist eventuell keine Überraschung, aber eben mehr vom sehr sehr Guten. Old Realm brachten ein wirklich schönes Debüt heraus, das man unbedingt mal sichten sollte als Fan des Genres, aber Aindulmedir haben mit weitem Abstand den größten Zauber geschaffen und ‚Star Lore‘ ist ein unfassbar schönes Erlebnis, das ich jedem ans Herz legen möchte, der sich von diesem Genre angesprochen fühlt.


##Indie##

Auch in diesem sehr weit gefassten Spektrum habe ich Schönes zu benennen. Silence in the snow haben gerade erst im September ein starkes Album herausgebracht, dessen Sichtung ich jedem, der mit dem Gothic Bereich der Indie Welten etwas anfangen kann, sichten sollte. Das hat wirklich Spaß gemacht, ähnlich wie die Neue von Coppelius, denen ich auch noch ein paar Zeilen gönnen möchte, denn ‚Abwärts‘ ist das neue Aufwärts, das Album eines ihrer stärksten und die Band weiterhin ein fantastisches Live-Spektakel, dass jeder wenigstens einmal gesehen haben sollte. Oswald Henke hat ein weiteres Kapitel zur Goethes Erben Chronik hinzugefügt und das war richtig gut. Aber schließlich sind es Sopor Aeternus & the Ensemble of Shadows, die endlich, ENDLICH, wieder ein richtig gutes Album herausgebracht haben nach einer Dekade durchschnittlicher bis miserabler Kost und auch wenn ich niemanden die Sondereditionen empfehlen kann und die Verkaufs- und Veröffentlichungsstrategie eher als unangenehm auffällt, ist das musikalische Erlebnis für sich wie Balsam auf der verschreckten Fan-Seele.


##Folk##

Und schließlich sind es die leisen Töne der Wanderklampfer, die in diesem Jahr am meisten Begeisterung in mir entfachten. Nur knapp möchte ich Rome erwähnen, die ein weiteres starkes Album mit einer nicht ausschließlich unvoreingenommenen Message bepackten – ihr Einsatz für die Ukraine ist bemerkenswert, aber mir auch manchmal zu eindimensional. Dann kommen aber drei ganz ganz starke und verdammt leise Bretter: Forndom ist ein instrumentales Zauberwerk mit eigenwillig einsamer und berührender Stimmung. Gestaltung und Umsetzung sind so fragil und feengleich, ich kann mich nur schwer trennen. Aber dann würde ich Tenhi Unrecht tun, die nach Jahren der Funkstille aus den finnischen Wäldern zurückkehrten, um der Welt zu zeigen, was im Folk möglich ist, wenn man sich ganz auf sich konzentriert und Stücke über Jahre ausarbeitet. Und mein Album des Jahres schließlich ist reiner Betrug, wenn es um diese Liste hier geht, denn Jonathan Hultén brachte die ‚Forest Sessions‘ bereits 2022 heraus, aber da ich sie erst in diesem Jahr entdeckte und dieses Album in meinen Ohren so unfassbar gut ist und zusammen mit dem Pale Swordsman aus dem Jahr 2021 ganz ganz weit oben in meiner Gunst, muss es in einem Jahresrückblick den Thron erhalten. Ich bin mir sicher, dass Hultén nicht jeden mit seinem eigenwilligen Gebaren, dem Sound und der Ästhetik abholt wie mich, aber … mir egal, mein Jahresrückblick, meine Empfindungen und ich bin so dankbar, dass es das Album gibt und „Leaving“ eines der für mich schönsten Lieder seit laaaaanger Zeit ist.


##Abschluss##

Und wie beendet man ein solches Jahr, eingeschlossen von Wassermassen und mit mulmigem Gefühl im Magen und Müdigkeit in den Knochen? Da helfen mir Grossstadtgeflüster ein weiteres Mal. Deren neues Album erscheint erst im kommenden Jahr, aber „Ich kündige“ ist eine perfekte Beschreibung der Gefühle, die so oft im Alltag in einem hineinfahren und die man so gerne hinausbrüllen will. Danke an diese Band, die es immer wieder schafft, in einfachen Worten und trashigen Bildern viel Platz zu Schaffen für Freude und Ausgleich. Ich wünsche allen Leser*innen trockene Füße, einen guten Rutsch, politische Stabilität, keine neuen Krankheiten, weniger Irrsinn und vor allem ausreichend Zeit zum Durchatmen. Auf bald.