Oswald Henke kehrt zurück, Goethes Erben im 34sten Jahr des Bestehens. Wahnsinn. ‚X‘ mit seinen 10 Titeln das insgesamt 10te Studioalbum dieser Institution deutscher Düsternis mit ihrer polarisierenden Frontfigur Henke. Gestern durfte ich am ersten der drei Live-Konzerte zur Veröffentlichung teilnehmen im Bremer Schlachthof: Die erste Konzertphase war ganz ‚X‘ gewidmet, das in voller Länge vor eher spärlich besetzten Rängen vorgetragen wurde und ich fragte mich einmal mehr, ob Gruftis buchstäblich aussterben, oder ob es an Henke und seiner aktuellen Musik liegt. Er war schon immer ein düster-apokalyptischer und immer herausfordernder Paradiesvogel der schwarzen Szene und so wie diese immer kleiner wird, so wird die Fan-Base der Erben übersichtlicher. Liegt das auch an den musikalischen Qualitäten von ‚X‘? Ich glaube schon, aber das ist nicht negativ gemeint.

Das zehnte Studioalbum soll auch das letzte offizielle Studioalbum unter dem Banner Goethes Erben sein. Diese Aussage bewerte ich aus drei Gründen verhalten betroffen: Zum einen gab es schon einmal ein Quasi-Ende der Erben mit dem Ausstieg Mindy Kumbaleks 2005 und es ging nach langer Pause mit ‚Am Abgrund‘ weiter mit Studioaufnahmen. Weiterhin ist ja auch das ‚letzte Studioalbum‘ recht spezifisch, ist Goethes Erben ja auch ein Projekt, bei dem Live-Aufnahmen fast gleichwertige Qualitäten erreichen (man denke nur an die ‚Menschenstille‘). Zuletzt war und ist Oswald Henke oft Betreiber oder Beteiligter in zahlreichen Projekten gewesen, Erblast und Henke als die in meinen Ohren Lohnensten. Ich kann mir also vorstellen, dass dies kein endgültiger Abschied vom unbequemen Lamentierer aus Bayreuth sein wird und hoffe, dass sich dies bewahrheiten wird.

Das Konzert am gestrigen Abend war ganz wunderbar, machte aber auch deutlich, wie sehr sich die Musik der Erben entwickelt hat über die Jahre, denn die zweite Hälfte des Abends war eine Reise durch die letzten drei Dekaden. Die Anfangstage der Neuen Deutschen Todeskunst, die eigenwillige blaue Phase, später rockig, bisweilen poppig und mitreißend. Die großen Hits, die in der Szene den meisten bekannt sein dürften („Die Brut“, „Der Sitz der Gnade“, „Himmelgrau“, „Zinnsoldaten“, „Märchenprinzen“ oder „Marionetten“) luden gleichzeitig zum Tanzen und Nachdenken ein und auch wenn viele andere Titel eher ruhiger daherkamen („Paradoxe Stille“, Iphigenie“ oder „Rot, blau, violett, grün, gelb“), so waren sie doch beschwingt, bewegt. Mit ‚Menschenstille‘ fand die Stille endgültig Einzug in die Musik der Erben, auf ‚Am Abgrund‘ gab es zwar noch richtige Kracher („Lazarus“ oder „Darwins Jünger“), mehrheitlich war der Sound aber eher atmosphärisch und in sehr ruhig. ‚X‘ geht in meinen Ohren noch ein wenig weiter: thematisch und musikalisch reist Henke dem Stillstand entgegen. Die meisten Stücke sind ruhig, mehrheitlich elektronisch-minimalistisch. Und wie mit dem rockigeren Projekt Henke scheinbar begonnen, fokussieren sich Oswald Henkes Texte mehr und mehr um die letzte Phase des Lebens und vor allem die Sorge vor dem Vergessen des eigenen Selbst. Es gibt sie natürlich noch, die Erben-typischen schrägen Text-Exkursionen in die Welt der Fleischschuld – auf ‚X‘ besingt er die Körperintegritäts-Identitätsstörung ‚Xenomelie‘, denn „…der linke Arm muss weg…“. Einmal findet sich auch tanzbare Systemkritik auf dem Werk, mit zwei Minuten hat man bei „Bluten“ aber nur wenig Zeit um gegen das Kapital zu tanzen. Und „Schmerz“ verbindet diese beiden Ausreißer in der Albummitte tanzbar, schräg und bewegend. Bis auf diese drei Titel und "Ich bin allein" harrt Henke aber mehr in sich – mir gefällt das ausgesprochen gut, aber ich frage mich, ob es 2023 noch wirklich viele gibt, die auf Goethes Erben reagieren und dann auch noch bereit sind, diese entschleunigte Version zu mögen. Und ein junges Publikum lockt man wahrscheinlich nicht mit Liedern über das Älterwerden an. Woher sollen also neue Fans kommen? Aber ich bin mir sicher, Herr Henke ist sich dessen sehr bewusst und geht seinen Weg dennoch weiter.

‚Am Abgrund‘ war gegen ‚X‘ echtes Easy-Listening. Aber je mehr ich mich der knappen dreiviertel Stunde hingebe, desto mehr finde ich mich hinein in Henkes Welt, erinnere mich, warum es sich seit Jahrzehnten lohnt, diesem Mann trotz aller Unbequemlichkeit Zeit zu schenken und lerne das Album lieben. Ich bin ein Freund aller bisheriger Erben Phasen (naja, beim blauen Album bin ich raus) und mag sie gleichberechtigt nebeneinander. Sollte ‚X‘ tatsächlich das letzte Studioalbum bleiben, so wurden Thema und Musik treffend umgesetzt und „Zweiwert“ ein überraschend versöhnlich-lieber Abschied. Ich wünsche mir und vor allem Oswald Henke, dass sich noch einige Leute finden, die ‚X‘ kaufen und sich die Zeit nehmen, um Texte und Musik schätzen zu lernen. Ich hoffe, dass ich den Mann, unter welchen Banner auch immer, nicht zum letzten Mal erleben durfte. Denn er ist einzigartig in der deutschen Musiklandschaft und live und auf Album ein ums andere Mal ein Erlebnis.


Ps.: Ich habe mit natürlich die Box gekauft, bin ja ein großer Fan. Und genau und nur für diese ist diese Box gedacht – ich rate allen, die sich Goethes Erben nicht voll und ganz verschrieben haben, sich die reguläre Scheibe zu holen. Das reicht für „normale“ Bedürfnisse absolut. Den großen Fans muss ich hingegen wahrscheinlich nichts schreiben, weil sie das Teil bereits erworben haben. Zur Sicherheit aber: Es lohnt sich als Fan.


Goethes Erben - X

14.04.2023 / Dryland Records


https://www.goetheserben.de/erben2022/


  1. Ich bin blind
  2. Traum vom Leben
  3. Wann
  4. Nagen
  5. Xenomelie
  6. Schmerz
  7. Bluten
  8. Vorbei vorbei
  9. Ich bin allein
  10. Zweiwert