Dieser kurze Artikel ist nicht wirklich eine vollständige Story. Er bedient nicht den regulären Anspruch an einen Konzertbericht und will auch gar nicht vollständig oder abschließend sein. Dieser Artikel entstand auch nicht, weil das Erlebte besonders gut war. Wahrscheinlich war es für viele im Publikum und für noch viele mehr, die auf dem Gelände waren, so wenig besonders, dass sie die dreiviertel Stunde Spielzeit schnell vergessen werden. Mir zumindest begegneten während der Tage mehrere sehr sympathische Menschen, die meine Freude in keinster Weise nachvollziehen konnten und die Magie dieses Momentes nicht einmal mitbekommen hatten. Und doch bin ich voller Glück und möchte dies teilen. Und weil ich auch in meinem Freundeskreis nicht wirklich Adressaten für meine Glücksbekundungen habe, nutze ich diese Plattform, um meine Gedanken in das WWW zu jagen.

Am letzten Wochenende fand das Amphifestival 2023 statt, insgesamt eine runde Sache, viele schöne Auftritte. Wer sich über die drei Tage voller schwarzer und elektronischer Kunst im Herzen Kölns informieren möchte, sollte dies an anderer Stelle tun – ich war mit der Familie da und kann sagen, dass mein Sohn viel Glück hatte bei seiner Festivaltaufe: Die Musik, der Sound, in weiten Teilen sogar das Wetter (für diesen Sommer zumindest) und die wirklich angenehme, unaufgeregte und entspannte Atmosphäre, die vielleicht auch dem Durchschnittsalter der Szene geschuldet ist, das alles passte und mir würden einzig die nicht unerheblich hohen Preise an den Futter- und Getränkeständen einfallen, die Kritik vertragen. Aber kurzum: Das war eine schöne Veranstaltung und das freut uns, denn normalerweise meiden wir Festivals (zu viele Menschen, zu viele Eindrücke).

Aber ich wäre auch überall sonst hingefahren, auch ins nahe (oder ferne) Ausland, wenn diese 45 Minuten an einem anderen Ort stattgefunden hätten. Denn nie hätte ich gedacht, dass ich die Chance erhalte, mein allerliebstes Dark Electro Projekt der 90er live erleben zu dürfen. Als ich Calva Y Nada kennenlernte, da war das Projekt bereits in den letzten Zügen und ich selbst zu jung, um einen der wenigen Live-Auftritte mitzunehmen. Jedoch, ich liebte (fast) alles an dem Projekt. Calva Y Nada brauchten (bis auf wenige Songs wie das späte „Los santos innocentes“) keinen BummBummBass, auf den sich die Mehrheit der Acts in diesem und verwandten Genres verlässt. Klong-Tschak und abwechslungsreiche Programmierung, schräge bis dissonante Melodien und merkwürdig-dramatische bis politisch stark aufgeladene Texte, die Mastermind Brenãl mit unverkennbarem Röhren rausshoutete. Ich weiß, das mag nicht jeder, aber Lieder wie „Der Sturm“, „Dias felizes“ oder der Klassiker „Rascheln“ sind einzigartig und unverwechselbar. Dann will ich noch unbedingt „Schlaf“ und vor allem das Lied mit meinem Lieblingstext „Fernes Leid“ benennen, die zeigen, dass die Szene sich politisch und gesellschaftlich positionieren kann, ohne zu pathetisch zu werden. Alleine bei den Worten „Ich geh‘ zur Arbeit jetzt und möchte nichts mehr hör’n, ich bin mir selbst zu viel, irgendwo stirbt ein Mensch“ bekomme ich jedes Mal einen Kloß im Hals und fühle mich ertappt. Und dann ist da noch „Paradies“ – vielleicht textlich nur im Kontext des Albums, auf dem es erschien, sinnhaft zu verorten ist es doch das Lied, zu dem ich seit 25 Jahren am liebsten tanze und das mich erfüllt mit Freude, Kraft und Halt. Calva Y Nada waren in den 90ern ein Geheimtipp und Brenãl verschwand dann 25 Jahre von der Bildfläche. Ein paar Rereleases, jede Menge Hoffnung, mehr aber auch nicht.

Und nun sollte Brenãl tatsächlich noch einmal auftreten? Nichts hätte mich aufhalten können und ich entdeckte im Publikum einige glänzende Augen, die wohl von einer ähnlichen Freude wie der meinen zeugen. Vielleicht ist die Masse derjenigen, die sich so positiv an Calva Y Nada erinnern nicht groß, aber für diejenigen war der Auftritt umso größer. Nicht, weil die Show so spektakulär war (Keyboard, Gesang, hektisches Hin- und Herlaufen und ausreichend Nebel) oder die Darbietung Perfektion ausstrahlte. Aber ich hatte mit mehr Aussetzern gerechnet und weiß nur von drei verpatzten Songs zu berichten. Es ging mir auch gar nicht darum, dass alles läuft. Ich durfte Brenãl auf der Bühne sehen. Und seine Freude, dass er dort stehen darf. Und seine Aufregung. Die Stimme passte, seine Art war unaufgeregt und … und hier freute ich mich besonders … Brenãl zeigte sich genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte: Ganz ohne Allüren, leicht getrieben und politisch deutlich positioniert: Bei „Schlaf“ verpatzte er seine Einsätze, viel wichtiger war ihm, deutlich zu machen, für wie falsch er die Richtung hält, die einige Teile der Gesellschaft einschlagen. Bei „Paradies“ wurde aus dem Herzland der Papisten, in das Calvin zur Rettung einreist, das Herzland der Faschisten.

Und dann ist da noch der kurze und neue Track, der den Umgang mit den Flüchtlingen im Mittelmeer kritisiert. Ja, genau, nach 25 Jahren absoluter Funkstille kommt da ein neuer Track und er ist… noch nicht so ganz fertig. Brenãl zeigte sich sehr aufgeregt und sagte, dass das Publikum mit seinem Applaus entscheiden kann, ob er weitermachen soll. Ich möchte mir gar keine Meinung dazu bilden, dafür war das Gehörte zu kurz und Calva Y Nada in meinen Ohren zu sehr ein Projekt für komplette Alben. Ich bin sehr zufrieden mit den 6 Alben aus den 90ern und sehne mir kein Comeback herbei. Wenn es passiert, werde ich neues Material vorsichtig und abgespalten vom alten Schaffen wahrnehmen, denn Calva Y Nada darf in meinem Kopf nicht dadurch leiden, dass neue Eindrücke nicht den Standard halten können. Ich wünsche Brenãl, dass er Freude hat an einem neuen Versuch, zu musizieren und werde auf jeden Fall reinhören. Und natürlich werde ich auch mitverfolgen, ob er seine Ankündigung, dass man in Zukunft wieder mehr von ihm hören oder sehen wird, wahr macht.

Was soll ich sagen: Das Glück, diese 45 Minuten miterleben zu dürfen, hat mich ganz und gar erfüllt und meine Beschreibungen werden Projekt-Unkundigen nicht viel sagen. Sicherlich werden auch einige aus dem Publikum oder diejenigen, die Mitschnitte im Netz finden an meinem Sachverstand und meinem Geschmack zweifeln und ich kann es ihnen nicht verübeln, denn perfekt war das beileibe nicht und Brenãl muss sich auch gefallen lassen, dass es irgendwie schwach ist, wenn man bei seinen eigenen Liedern, die man selbst komponierte und schrieb, bei den Einsätzen hart danebenliegt. Aber darum geht es mir nicht. Ich durfte Calva Y Nada sehen. Live. In echt. Unbezahlbar.