Es ist ein gutes Jahr für Freunde elektronischer (Pop)musik. Depeche Mode versöhnen dank "Memento Mori" viele Kritiker mit der Band, Beborn Beton setzen mit "Darkness Falls Again" ein dickes Ausrufezeichen und jüngst meldeten sich die extrem unterbewerteten Final Selection mit dem ebenfalls bockstarken Album "Siren's Call" aus 15 Jahren Funkstille wieder zu Wort. Doch kaum einem anderen Album, abgesehen jenem von Depeche Mode, wurde derart entgegengefiebert wie "Electric Sun" von VNV Nation. Dass die Veröffentlichung dann noch wegen Presswerkproblemen verschoben wurde, dürfte einigen eingefleischten Fans den Schweiß auf die Stirn getrieben haben.
Allerdings mussten sie sowieso schon lange ausharren: Zwischen dem Vorgänger "Noire" und "Electric Sun" liegen rund fünf Jahre. Sicherlich war auch die Pandemie wieder dafür verantwortlich, dass es mit einer neuen VNV-Platte so lange gedauert hat. Vorfreude ist aber bekanntlich die schönste Freude - und könnte aber wegen nicht erfüllter Erwartungen schnell in Enttäuschung umschlagen. Spoiler: In dieser Beziehung ist bei VNV Nation nichts zu befürchten.
Auch wenn Ronan Harris, bereits seit "Noire" ohne seinen langjährigen Mitstreiter Mark Jackson agierend, zeitweise herausfordernd und experimentierfreudig gewesen ist (man erinnere sich an das 2005er Werk "Matter & Form", das nicht von allen Anhängern positiv aufgenommen wurde), lag sein Fokus stets in der Verschmelzung tanzbarer Sounds und großer musikalischer Gesten sowie hymnischen Melodien. Spätestens mit dem 1999er Werk "Empires" konnte der gebürtige Ire und mittlerweile Wahlhamburger sein Projekt fest in der Szene verankern.
Zusammen mit Apoptygma Berzerk und Covenant bildete VNV Nation das unerschütterliche Future-Pop-Triumvirat, das zu Anfang des neuen Jahrtausend tonangebend in diesem Genre war. Während aber die beiden anderen genannten Gruppen mittlerweile nur noch sporadisch Alben veröffentlichen (Covenant zuletzt 2016, Apoptygma schmiss 2020 eine eher maue EP auf den Markt, deren Titel treffender nicht sein konnte: "Nein danke"), ruhen alle Hoffnungen also auf VNV, die Fahne des "Weiberelectro" standhaft hochzuhalten.
Dies tut "Electric Sun" - und zwar mit Verve und einer bestechenden Selbstverständlichkeit. Dennoch verharrt das Projekt nicht in enervierenden Stereotypen des Genres. Natürlich ist ein Song wie "Before The Rain" sowohl lyrisch wie auch musikalisch eine typische Ronan-Nummer, die sich in der Strophe langsam aufbaut und im Refrain in den Raum öffnet und diesen mit Licht flutet. Doch der bekannte Klangkosmos wird auf diesem Album um eine symphonische und damit organische Komponente erweitert. Das hat den überaus positiven Nebeneffekt, dass ein Stück wie "Electric Sun" mittels schwerer Streichersätze, die an die wuchtigen Orchesterstücke eines Sergej Prokofiev erinnern, gewaltiger, dringlicher und fatalistischer daherkommt.
Ob die Arbeit mit dem Filmorchester Balbelsberg, mit dem er 2015 einige seiner bislang veröffentlichten Stücke neu eingespielt und auf dem Album "Resonance" veröffentlichte, ihn dazu inspirierten, der klasssischen Musik mehr Raum zu geben, kann nur gemutmaßt werden. Schließlich war die Verbindung schon zuvor gegeben - kaum ein Stück, vor allem für die Clubs, das nicht in seinem Aufbau klassisch anmutende Elemente enthält!
Der Gegensatz zu den kontemplativen Momenten wie das sprudelnde "In The Temple", das nachgerade sakrale "At Horizon's End" oder der ätherische Ausklang "Under Sky", der so fulminant und wunderschön wie ein Sonnenaufgang über einer weiten Ebene anmutet, und den nach vorne gehenden Nummern - allen voran "Artifice" - machen die hohe Energie von "Electric Sun" aus.
Ronan stand sicherlich vor dem Luxusproblem, welche Stücke schon vorab ausgekoppelt werden sollten. "Before The Rain" und vor allem "Wait", welches jetzt schon zu den absoluten Glanzlichtern in der Karriere von VNV Nation gezählt werden kann, waren sicherlich nicht verkehrt. Aber es hätten ebenso "Prophet", oder "The Game", oder auch "Sunflare" an deren Stellen stehen können, so gut ist das gesamte Material.
Mehr als je zuvor verzahnt sich bei "Electric Sun" Ronans emotionale Lyrik, die erneut den Mensch und seine Zukunft, die er selber in der Hand hält (und vielleicht verspielt), mit seinen stark cineastisch durchdrungenen Kompositionen und dem Wunsch, etwas wirklich außergewöhnliches zu schaffen. Mit Superlativen sollte man sparsam umgehen. Aber wenn selbst diese nicht mehr greifen, um zu beschreiben, welch Affekte die zwölf Songs auslösen, kommen wir an den Punkt, wo man von einem absoluten Meisterwerk sprechen muss, das von der ersten bis zur letzten Note fesselt.
Oder ganz einfach: "Electric Sun" ist das beste VNV-Nation-Album ever.