Wir begleiten 'Raoul Sinier' hier ja nun schon seit vielen Jahren – und es ist immer wieder erstaunlich, wie wenig er sich um das kümmert, was andere unter „Weiterentwicklung“ verstehen. Wo andere ihre Musik verfeinern, zerlegt Sinier sie lieber und baut sie danach völlig neu zusammen. Seit den frühen Tagen von Huge Samurai Radish und Brain Kitchen ist klar: Hier arbeitet jemand, der Klang nicht konsumiert, sondern seziert. Und trotzdem – oder gerade deshalb – gelingt es ihm, etwas tief Emotionales aus diesen zerbrochenen Strukturen zu formen. Mit Army Of Ghosts setzt er diese Linie fort, aber in einer Reife, die man vielleicht so noch nicht von ihm gehört hat.
Was in den späten 2000ern als anarchischer Mix aus Elektronik, Hip-Hop und düsterem IDM begann, hat sich längst zu einer komplexen, atmosphärischen Klangsprache entwickelt. Auf Army Of Ghosts finden sich vertraute Zutaten – glitchende Beats, verzerrte Samples, Sinier’s charakteristische, leicht entrückte Stimme – doch diesmal scheint alles noch dichter verwoben. Die Musik atmet, sie lebt, sie irritiert. Es ist, als hätte Sinier all seine bisherigen Phasen – die verspielte Experimentierfreude von Huge Samurai Radish, die düstere Struktur von Tremens Industry und die melancholische Intimität von Guilty Cloaks – in einem einzigen, vielschichtigen Organismus vereint.
Dabei fällt auf, wie souverän er heute mit Kontrasten spielt. Wo früher rohe Energie dominierte, setzt er jetzt auf kontrollierte Reibung. Ein Track kann gleichzeitig aggressiv und berührend wirken, kalt programmiert und doch zutiefst menschlich. Die Gitarren donnern, während Synthesizerflächen wie Nebel vorbeiziehen, und Sinier’s Stimme wirkt wie ein stiller Erzähler, der irgendwo zwischen Traum und Realität verloren gegangen ist. Trotz aller Komplexität wirkt das Album erstaunlich zugänglich – sofern man bereit ist, sich auf sein Labyrinth einzulassen. Army Of Ghosts ist kein Werk für beiläufiges Hören, aber es zwingt einen auch nicht, die Rätsel sofort zu lösen. Es ist ein Soundkosmos, der Raum lässt: für eigene Deutungen, für Emotion, für Irritation. Und das ist vielleicht die größte Stärke dieses Albums – es fordert den Hörer, ohne ihn zu belehren.
Im direkten Vergleich zu den älteren Werken fällt auf, dass Sinier hier weniger Fragmentierung, dafür mehr dramaturgische Tiefe anstrebt. Seine Tracks scheinen stärker miteinander verbunden, als wären sie Teil einer größeren Erzählung. Der „Geister“-Aspekt im Titel lässt sich durchaus metaphorisch verstehen – nicht als Spuk, sondern als das Echo all der Ideen, die ihn über die Jahre begleitet haben. Alte Motive kehren zurück, aber in neuer Gestalt, transparenter, fast versöhnlich. Natürlich bleibt die Musik von 'Raoul Sinier' Geschmackssache. Wer Beats erwartet, die sich brav im Viervierteltakt sortieren, wird hier schnell an seine Grenzen stoßen. Doch wer Klang als erzählerisches Medium begreift – als Form von Kunst, die sich erst mit der Zeit entfaltet – wird mit Army Of Ghosts reich belohnt. Dieses Album ist nicht laut, um Aufmerksamkeit zu bekommen, sondern laut, weil es etwas zu sagen hat.
Vielleicht ist das die schönste Entwicklung in Sinier’s Schaffen: Dass hinter all dem technischen Brillieren, all der elektronischen Präzision, immer noch eine Seele zu hören ist – verletzlich, neugierig, widersprüchlich. Army Of Ghosts ist das Werk eines Künstlers, der keine Angst mehr hat, sich selbst zu zeigen – in all seiner Dunkelheit und Schönheit zugleich. Für mich ist das kein Neubeginn, sondern ein Höhepunkt einer konsequenten Reise. Und wer diese Reise seit Huge Samurai Radish mitverfolgt hat, wird in diesem Album viele alte Bekannte treffen – nur eben in anderer Gestalt. Eine Armee von Geistern, ja – aber aus Fleisch, Klang und Erinnerung. Und sie marschiert direkt in unser Unterbewusstsein.
'Raoul Sinier' liefert mit Army Of Ghosts ein intensives, komplexes und zugleich überraschend emotionales Werk. Nichts für Nebenbei-Hörer – aber ein Muss für alle, die Musik als Kunstform verstehen und sich gerne verlieren, statt sie nur zu konsumieren. Alte Fans werden seine Entwicklung erkennen, neue Hörer werden sich fragen, warum sie ihn nicht schon früher entdeckt haben.
Raoul Sinier - Army of Ghosts
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