Raoul Sinier, aka Ra, hat einen relativ hohen kreativen Output und setzt seine Ideen nicht nur akustisch, sondern auch visuell um (u.a. in Form von Cover-Artworks, Videos, Animationen, Comics), weshalb sein viertes Album, "Tremens Industry", neben der Audio-CD auch eine DVD mit Musik-Videos und kleinen Dokumentationen enthält. Stilistisch hat sich Sinier im Niemandsland zwischen IDM, Hip Hop und Breakbeat niedergelassen und lotet auf seinen Alben jeweils unterschiedlich stark die verschiedenen Grenzverläufe aus. Im Vergleich zu dem, durch Hip Hop-Beat dominierten, "Wxfdswxc2" 2007 und dem quirlig-komplexen "Brain Kitchen" 2008 erscheint mir das aktuelle Werk, wie auch im Promo-Text angekündigt, insgesamt etwas reifer und zugänglicher, und zwar insofern, dass die IDM-nahen Sound- und Rhythmus-Spielereien nicht mehr so inflationär eingesetzt werden und einen wirkungsvolleren Beitrag zum Aufbau von Atmosphäre leisten. Desweiteren steuert Sinier diesmal gesungene und gesprochene Vocals auf Englisch und Französisch bei, so z.B. in "The Hole". Dieses Stück basiert, wie die meisten auf "Tremens Industry", primär auf einem Breakbeat-Rhythmus in mittlerem Tempo, der immer wieder der digitalen Manipulation zum Opfer fällt. Im letzten Drittel kommt es hier zu einem Rhythmus-Wechsel, der Beat wird wesentlich simpler und langsamer, wodurch die Melodie tragenden Komponenten (z.B. Klavier- oder Glockenspiel-Synthesizer) stärker in den Vordergrund rücken. Sinier kann jedoch auch anders, in "Map For A Tactical Nonsense" macht er in der zweiten Hälfte etwas stärker Druck als sonst und liefert (beinahe) straighten 4/4-Beat, wobei die Orgel-ähnlichen Sounds in ihrer Tonfolge jedoch gewohnt gewöhnungsbedürftig bleiben. Das wohl eingängigste Lied stellt der titelgebende Track dar, was auch damit zusammenhängen wird, dass hier ein einfacher, lässiger Breakbeat-Loop fast unverändert durchläuft. Das fällt jedoch nicht zwingend negativ auf, da die Aufmerksamkeit eh auf die angenehme Melodie und Sinier's abgefahrenes Spiel gelenkt wird. Die Arrangements in den Liedern erwecken bei mir phasenweise den Eindruck, dass die einzelnen Spuren jeweils autonom nebeneinander herlaufen, in scheinbar chaotischer Weise dissoziieren, und trotzdem noch kurzfristig immer wieder harmonisch zusammenlaufen. Sinier erschafft zudem regelmässig wahre Klangwände, bestehend aus einer übersteuerten, fast noise-artigen Sound-Matsche (es fehlt nur noch etwas mehr Distortion). Wie schon erwähnt gibt es zu der CD noch eine DVD mit zahlreichen Videos und einer Spielzeit von 140 Minuten (!). Der Inhalt bezieht sich nicht nur auf "Tremens Industry", sondern es sind auch Musikvideos zu Stücken von "Brain Kitchen" und "Wxfdswxc2" zu sehen. Dazu gibt es noch einige kurze Dokumentationen, z.B. über das Entstehen seiner Gitarre oder "Speedpainting"-Aufnahmen, welche die Entstehung seiner Zeichnungen im Zeitraffer wiedergeben. Die Videos bezeugen seinen Sinn für Humor und seine beachtliche Kreativität, die sich auch in seinem umfangreichen kommerziellen Portfolio äussert. Das Album wartet mit insgesamt ca. 3 Stunden akustischem und visuellem Entertainment auf, kein schlechtes Angebot für nur 18€, und vor allem kein besonders leicht verdauliches. Sinier ist zwar zugänglicher geworden, bleibt aber verspielt und liefert diverse sperrige Sound-Attacken, sowie relativ komplexe Melodien, und das ist auch gut so, denn damit bleibt der sympathische Franzose auch diesmal wieder eine Hör- und Seh-Erfahrung wert, vor allem für Leute mit Ninja Tune-Affinität.