Zybergeist - Anne

Zybergeist - Anne

Es gibt Daten, die sind mehr als bloß Zahlen. Der 12. Juni ist so ein Tag – der Geburtstag von Anne Frank, einem der stärksten Symbole für Menschlichkeit im Angesicht der absoluten Unmenschlichkeit. Ein Tag, der mahnt, nicht zu vergessen. Ein Tag, der aufrüttelt. Und genau diesen Tag haben sich Zybergeist ausgesucht, um ihre neue EP 'Anne' zu veröffentlichen – ein Werk, das nicht einfach erinnert, sondern sich mit voller Kraft gegen das Vergessen und gegen die Verdrehung von Geschichte aufbäumt. Was hier erklingt, ist kein stilles Gedenken, sondern ein Aufschrei, eine klanggewordene Wunde, eine Sirene gegen politischen Zynismus und die schleichende Aushöhlung kollektiven Gedenkens.

Zybergeist, das ist ein deutsch-amerikanisches Industrial/EBM-Projekt aus Vermont – roh, ungeschliffen, unüberhörbar. Gegründet 2023, geboren aus Frust, Wut und jahrzehntelanger Szene-Sozialisation, schlägt das Ein-Mann-Projekt eine Brücke zwischen den verzerrten Klanglandschaften von :Wumpscut:, Leæther Strip, Suicide Commando und den dystopischen Strukturen eines Front Line Assembly. Doch Zybergeist ist meiner Meinung nach weit mehr als ein Retro-Revival. Hier wird nicht im Gestern gewühlt – hier wird angeklagt, hier wird konfrontiert, hier wird entwaffnet. Die Distortion ist nicht Effekt, sie ist Haltung. Und diese Haltung trägt 'Anne' wie ein glühendes Brandzeichen auf der Stirn.

Die EP die als CDr-Version seit kurzem über Bandcamp erhätlich ist, besteht aus insgesamt acht Tracks, von denen drei Versionen von 'Anne' das inhaltliche und emotionale Zentrum bilden. Das Original ist ein pulsierender, von kalten Synths und gespenstischen Sprachsamples getriebener Monolith – bedrückend, fordernd, hypnotisierend. Die Reinforced-Version legt noch eine Schicht brutaler Energie obendrauf, während das Instrumental Raum lässt für eigene Reflexion, eigene Assoziationen, eigene Wut. Die Samples wirken wie Splitter aus einer zersprungenen Welt, und gerade in ihrer Unvollständigkeit entwickeln sie eine eindringliche Kraft. Man hat das Gefühl, als würde man durch ein Funkgerät ins Gedächtnis der Geschichte lauschen – verzerrt, verrauscht, aber unmissverständlich.

Flankiert wird 'Anne' von drei Zahlensender-Tracks – benannt nach den geheimnisvollen Kurzwellensendern aus dem Kalten Krieg. Diese wirken wie Tore zwischen den Klangwelten: Zahlensender 0 öffnet mit hektischem, statischem Rauschen und einem Gefühl tiefster Unruhe. Zahlensender I knistert als bedrohliche Zwischenstufe, während Zahlensender II alles zerfallen lässt – wie ein System, das sich selbst verschlingt. Und dann ist da 'Arschtanz V2 (auf Deutsch)' – ein Track, der alles in Frage stellt, was man vorher gehört hat, und doch vollkommen ins Gesamtbild passt. Ironisch, stampfend, grotesk und ein bisschen schmutzig. Fast schon clubtauglich – wenn man auf einem brennenden Dancefloor tanzen möchte. Der englische Zwilling macht aus dem absurden eine internationale Groteske. Der Humor ist schwarz wie Öl, der Beat hart wie ein Polizeiknüppel auf Speed. Und irgendwo zwischen Augenzwinkern und Mittelfinger wird klar: Auch das ist Protest. Auch das ist eine Form von Widerstand – gegen die Ernsthaftigkeit als Pose, gegen das Glattgebügelte, gegen das, was sich systemkonform gibt und doch nichts sagt.

Was Zybergeist hier geschaffen haben, ist ein kompromissloses Manifest. Es ist musikalisch rau und konzeptionell bis in die tiefsten Frequenzen stimmig. Die Produktion ist vermutlich absichtlich unperfekt, die Übergänge kantig, die Wirkung nachhaltig. Dieses Release reißt keine Wunden auf – es zeigt sie. Es lügt nicht. Es beschönigt nichts. Es brennt.

'Anne' ist kein Electro für den Nebenbei-Konsum, kein EBM zum Glänzen auf dem nächsten Szenefestival. Es ist ein Release für Menschen, die Sound als Kunstform ernst nehmen, als Ausdruck politischer Haltung, als kompromissloses Statement gegen das Wegschauen. Wer mit den Werken von :Wumpscut:, FLA oder VAC groß geworden ist, wer düstere Elektronik nicht nur hört, sondern spürt – der wird in 'Anne' (hoffentlich) ein kleines Meisterwerk finden. Für Schönklang-Fetischisten und Politurfreunde ist das hier zu viel, zu dreckig, zu echt. Aber für alle anderen gilt: Hören. Fühlen. Weiterdenken.

Zybergeist - Anne
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