Na gut, jetzt mal Klartext – oder vielleicht besser Tucholsky-Style: Wie soll man bitte ein Album gebührend ankündigen, wenn nicht einmal der Titel feststeht? „Weltenbühne“ schreibt Amazon und Bandcamp, als ginge es um ein Theaterstück für intergalaktische EBM-Fans. Die Bandseite hingegen spricht dann an einigen Stellen wieder von „Weltbühne“ – womöglich ein subtiler Hinweis auf die Einzahl unserer Aufmerksamkeitsspanne oder ein schelmischer Tritt gegen den Duden. Wir wollten es genau wissen, haben recherchiert, Kontakt zur Band aufgenommen, tote Brieftauben reanimiert – aber nix. Schweigen im Wald. Mal so, mal anders. Vielleicht ist genau das schon die erste künstlerische Meta-Ebene des Albums: Willkommen auf der Bühne der Welt, auf der alles relativ ist – selbst der Albumtitel.
Doch was auch immer auf dem Cover steht: Inhaltlich ist klar, worum es geht – und das hat es in sich! Tyske Ludder, die dienstältesten EBM-Krawallmacher mit Hang zur Gesellschaftskritik, holen sich für ihr neues Werk niemand Geringeren als Kurt Tucholsky ins Boot. Ja genau, den mit der spitzen Feder und der noch spitzeren Zunge. Während andere Bands Texte aus dem Darknet ziehen oder ChatGPT fragen, graben Tyske Ludder in den Archiven der Weimarer Republik. Und das mit einer Ernsthaftigkeit, die jeden Germanistikprofessor neidisch macht – wenn er denn genug Bass verträgt, um das Album auf voller Lautstärke zu hören, ohne sein Hörgerät zu sprengen.
Die Stücke sind klanggewordene Essays, politische Manifeste im Stroboskoplicht. Wo sonst marschieren düstere Synth-Linien neben literarischen Zeitdiagnosen? Und wer hätte gedacht, dass Tucholskys Texte auch hundert Jahre später noch genauso gut auf den Dancefloor wie in den Feuilleton passen? „Die Mäuler auf!“ – das klingt nicht nur nach Schlachtruf für Demo und Club, sondern auch wie die perfekte Anleitung zur heutigen Kommentarspalte. „Augen in der Großstadt“ wiederum trifft mitten ins Herz der urbanen Vereinsamung – nur diesmal mit wummerndem Subbass statt feinem Klavierspiel.
Weltenbühne – oder Weltbühne, je nachdem, wie das Vinyl gerade gepresst wurde – ist keine gemütliche Lesung bei Kerzenlicht. Es ist ein Sturm aus Beats und Worten, der einem Tucholskys Botschaften nicht sanft ins Ohr flüstert, sondern sie mit einem Industrial-Brecheisen in den Schädel hämmert. Und das ist gut so. Kurzum: Wer meint, EBM sei nur für das Fitnessstudio oder den Gothic-Keller, hat noch nicht erlebt, wie Literaturgeschichte vertont wird – mit Anlauf, Pathos, Kritik und einem fetten Synthie-Donnerhall. Und ob du dabei auf der Weltbühne oder Weltenbühne stehst, ist am Ende eigentlich egal. Hauptsache, du stehst nicht daneben.
Und wer sich zuletzt schon von ZyberGeists musikalischer Aufarbeitung dunkler deutscher Vergangenheit (Anne) fesseln ließ, wird in Weltenbühne die logische Fortsetzung auf literarisch-satirischer Ebene finden. Auch hier wird Geschichte nicht bloß zitiert – sondern emotional, kritisch und mit voller elektronischer Wucht zum Leben erweckt. Das Release erscheint beim Label emmo.biz als reguläre CD, in einer limitierten Box sowie auf Vinyl in zwei streng limitierten Editionen. Das Album ist somit mehr als eine Hommage – es ist ein künstlerischer Weckruf gegen Gleichgültigkeit. Und wer sich darauf einlässt, wird nicht nur mitreißende Musik erleben, sondern auch dem geschriebenen Wort ganz neu begegnen.