Zu den vielleicht interessantesten Werdegängen zählt jene der Band The Ultimate Dreamers aus Belgien. Denn eigentlich konnten sie erst mit der Veröffentlichung ihres Vorgängers "Echoing Reverie" vor zwei Jahren so richtig auf sich aufmerksam machen. Doch die Anfänge der Band um den charismatischen Sänger Frédéric reichen bis in die mittleren 1980er Jahre zurück. Im kleinen Städtchen Lessines formierte sich die Band. Auf ihrer Webseite ist zu lesen, dass der surrealistische Maler René Magritte ebenfalls in Lessines geboren wurde.
Diese Information ist sicherlich nicht wahllos - oder weil es sich besonders hochtrabend anhört - heraugepickt, sondern als Hinweis auf die ersten musikalischen Gehversuche zu verstehen, die The Ultimate Dreamers unternommen haben. Unter dem Eindruck der sich entwickelnden Gothic-Kultur in England sowie der beginnenden Autarkie belgischer Elektroniker, die ein paar Jahre später unter dem Begriff New Beat zusammengefasst werden sollten, hat die Gruppe minimale und verschroben anmutende Cold-Wave-Songs erdacht, die sie über Kassetten in Eigenproduktion veröffentlichten und damit einen - zugegeben sehr kleinen - Fankreis erspielten. Die zwischen 1986 und 1990 entstandenen Demos haben sie 2021 - Corona sei Dank - unter dem Titel "Live Happily While Waiting For Death" zusammengefasst und in leicht überarbeiteter Form erneut auf den Markt geworfen.
Dieser Moment war es allerdings, der die Gruppe in ihrer (fast) Originalbesetzung wieder zusammengebracht hat. Seitdem nimmt das Quartett neue Songs auf, die jedoch immer noch den charmanten DIY-Gedanken ihrer ersten Veröffentlichungen in sich tragen. Mit ihrem neuesten Werk "Paradoxical Sleep" hält man sich weiterhin an die klassischen Weltschmerzklänge, präsentiert diese aber extrem eigenständig. Schon der Opener "Digging" verweist mit seiner markanten Synthieflächen an den immer noch großartigen Song "Love Like Blood" von Killing Joke, ohne aber das Stück als günstige Vorlage zu nehmen. Außer dieser kurzen Anfangssequenz hat "Digging" nichts mehr mit dem Klassiker gemein.
Überhaupt ist die neue Platte alles andere als ein stoischer Rückgriff auf tradierte Soundstrukturen und deren unreflektierte Verherrlichung. The Ultimate Dreamers bewahren das Gothic-Erbe, indem sie es teilweise neu und überraschend interpretieren. Da darf in "Energene" auch ein technoider Acid-House-Sound anklingen, während die Gitarren sich schwelgerisch um die Elektronik legen. Gerade in diesem Stück kristallisiert sich die große Stärke der Belgier heraus: mit ihrer Musik eine ganz eigene Mischung aus Nostalgie und Innovation zu kreieren.
In Zeiten überproduzierter Werke, auch in den alternativen Szenen, sind Alben wie "Paradoxical Sleep" eine wahre Wohltat, da die Songs nicht versuchen wollen, einem aktuellen Trend hinterherzuhächeln, sondern im reduzierten Sound eine neue erzählerische Qualität entdecken. So hätte "Deafness" unter anderen Umständen eine reißerische Clubnummer werden können, der mit seiner Energie die Tanzflächen im Sturm erobert. Stattdessen bleibt der Song brodelnd unter der Oberfläche und dringt aber von dort tiefer ins Bewusstsein ein.
Ebenso besitzt "The Knife" eine große Kraft, die sich jedoch nicht durch protzige Arrangements manifestiert, sondern eben gerade durch die aufs Wesentliche heruntergebrochene, nebulöse Aura. Es ist sicherlich auch Len Lemeire (Implant, 32crash) zu verdanken, dass "Paradoxical Sleep" punktgenau auf der Schnittstelle zwischen Vintageproduktion und modernem Hörverständnis justiert wurde. Einfach mal "Far Away" anhören: Kaum ein Stück repräsentiert besser die musikalische Idee der Platte. Besonders intensiv mutet allerdings das französischsprachige "Envoler" an, bei dem Frédérics Organ in einen herrlich antiquierten Halleffekt gepackt wurde.
Noch mehr als "Echoing Reverie" traut sich "Paradoxical Sleep", einen ganz eigenen Klangkosmos zu gestalten, in dem sich der kompositorische Minimalismus, wie sie beispielsweise The Cure oder The Sisters Of Mercy in ihren Frühphasen praktizierten, mit eigenen, durchaus modernen Klangkonstrukten zu paaren wagt. Die Kraft dieses Albums liegt in der Ruhe, die sie ausstrahlt, hervorgerufen durch eine Band, deren Großteil der Mitglieder vier Dekaden altes Wissen geschickt zu nutzen wissen.