"Es war einmal..." - wie viele Abgründe verstecken sich hinter diesem Satz! Besonders die Gebrüder Grimm haben mit ihren gesammelten Märchen den Kindern in schöner Regelmäßigkeit das Fürchten gelehrt. Bekanntestes Beispiel ist sicherlich "Hänsel & Gretel", dessen Handlung diversen Splatter- und Horror-Filnmchen zur Ehre gereicht. Kein Wunder also, dass besonders diese Geschichte auch immer wieder Gegenstand von blutrünstigen Streifen ist. 2020 hat Oz Perkins sich des Stoffes bemächtigt und mit "Gretel & Hänsel" eine ganz manierliche, wenn auch nicht überragende Adaption des Märchenstoffs abgedreht.

Tess de la Cour jedenfalls war von dem Film sehr begeistert. So sehr sogar, dass sie einige Ideen in ihr neues Album "From The Bones", das sie unter ihrem Moniker Memoria veröffentlicht, hat einfließen lassen. Als Konzeptalbum ist das zweite Werk der Ehefrau des nicht minder bekannten Gruftie-Musikers Henric de la Cour aber nicht zu verstehen. Vielmehr hält die Musikerin es wie auf ihrem Erstling "Cravings" von 2019 wieder einmal mit einigen kritischen Beobachtungen zur Gesellschaft, gepaart mit persönlich gefärbten Betrachtungen über mentale Krisenzustände.

Während ihr Debüt noch mit viel Unterstützung ihres Hospes realisiert wurde, hat Henric dieses Mal kaum noch Einfluss auf die Produktion gehabt. Ganz autark ist Tess aber nicht gewesen, sondern hat sich dieses Mal Schützenhilfe von den Jungs von Kite geholt, die ebenfalls gut mit den de la Cours befreundet sind. Das Ergebnis aus dieser Zusammenarbeit spiegelt sich in einem sehr facettenreichen Klang wieder, der "From The Bones" ausmacht.

Von schwül-elektronischen Tracks ("Girl") über klassische Post-Punk-Verdrossenheit ("I'm Sorry") bis hin zu energetischem Elektro-Rock ("From The Bones Of The Dead") und verspieltem Düster-Synth-Pop ("Canary") deckt Tess fast jeden Geschmack der Schwarzkittelfraktion ab. Zurecht wird sich der/die eine oder andere Leser/in fragen, ob so ein wild zusammengewürfelter Stilmix nicht auf Kosten des Hörgenusses geht. Das tut es nicht. Der Grund dafür ist schnell ausgemacht: Sängerin Tess selbst ist es, die mit ihrer wunderbaren Stimme die Songs zusammenhält. Mit ihrem nuancierten Timbre, dass von betörend bis bissig reicht, drückt sie ihren Songs den entscheidenden Stempel auf.

Das einzige Manko, dass man "From The Bones" attestieren muss, sind ihre teilweise zu verkopft wirkenden Stücke. Ohne Zweifel haben wir es hier mit einer phantastischen Musikerin und Sängerin zu tun, die sich auf ihrem zweiten Album aber immer noch in der Orientierungsphase befindet, was manche Songs so klingen lässt, als wäre Memoria sich ihrer Sache noch nicht zu hundert Prozent sicher. Man könnte es auch Angst vor der eigenen Courage nennen. Dennoch ist der eingeschlagene Weg der richtige, und der künstlerische Fortschritt zwischen "Cravings" und dem aktuellen Longplayer ist nicht nur erkennbar, sondern mehr als beachtlich.

Das Gebot der Stunde also lautet: Ruhe bewahren! Zunächst sich am dennoch feinen "From The Bones" erquicken und der nächsten Memoria-Veröffentlichungen harren. Denn schließlich ist "es war einmal", noch lange keine Option für das Projekt. Da kommt noch mehr!