Wie viele Nackenschläge des Schicksals kann ein einzelner Mensch verarbeiten? Im Fall von Adrian Hates, dem Kopf und Strippenzieher von Diary Of Dreams, war Fortuna jedenfalls nicht besonders gnädig. Die Pandemie brachte organisatorische und auch existenzielle Probleme mit sich; der Musiker sah sich sogar gezwungen, Teile seines Equipments zu verkaufen, um sich über Wasser zu halten. Danach war dann Land unter im White-Room-Studio, in dem an den Alben traditionell gearbeitet wird. Die Flut von vor zwei Jahren verwüstete die Räumlichkeiten. Darüber hinaus musste der Musiker auch noch mit traurigen persönlichen Ereignissen klarkommen.

Flapsig ausgedrückt: Es lief wenig rund in den letzten fünf Jahren für Diary Of Dreams. Die aufgezählen Gründe waren dann auch in der Summe dafür verantwortlich, dass "Melancholin", das mittlerweile 14. Studioalbum des "Tagebuchs der Träume" so lange gebraucht hat, bis es das Licht der Welt erblicken konnte. Doch die auferlegte Zwangspause entpuppt sich als Glücksfall in einer unglücklichen Zeit. Der längere Vorlauf wirkt sich schlussendlich in einem bemerkenswert organischen Klangbild auf "Melancholin" aus, das sich zwar der typischen Soundästhetik der Dark-Waver unterordnet, aber in vielen Nuancen für einige Überraschungen sorgt.

Bereits im wuchtigen "Mein Werk aus Zement", der als Einstieg in das Album nicht besser hätte gewählt werden können, wird offenkundig, mit wieviel Detailverliebtheit Adrian Hates und seine Musiker dieses Mal ans Werk gegangen sind. Fette Streicher, tonnenschweres Schlagwerk, Adrians beschwörendes Organ, das neue stimmliche Ebenen dazugewonnen hat, Chöre, alerte Stromgitarren, fanfarengleiche Töne: Fast schon wie "O Fortuna" aus Carl Orffs "Carmina Burana" bläßt dieses Stück aus den Boxen, ohne sich aber einem übertriebenem Pathos hinzugeben. Kein Zweifel: In diesem Opener steckt die ganze Hoffnungslosigkeit, die sich in dieser verrückten Zeit, in der Umweltzerstörung, Pandemie und Krieg die federführenden Themen in der Gesellschaft sind, ausbreitet.

Doch Diary Of Dreams waren nie eine Band, die sich explizit zu gesellschaftlichen Themen geäußert haben. Selbst das persönliche Befinden verklausuliert Adrian in seinen metaphorischen Texten. Dabei gelingt ihm das Kunststück, mit seinen Songs eine unglaubliche Nähe zu schaffen, ohne direkten Bezug zu seiner eigenen Vita zu nehmen. Doch in den wortreichen Überlegungen findet sich das lyrische Ich in tiefer Selbstreflexion, ganz explizit im vorab präsnterten Song "The Secret" und "Viva La Bestia". Am Ende weiß nur Adrian allein, was genau seine Songs bedeuten, hält aber damit hinter dem Berg, damit der Hörer seine eigenen Gedanken dazu machen kann. Ob solchen inneren Betrachtungen und Auseinandersetzungen das Ergebnis einer qua äußerer Umstände hervorgerufenen Selbstanalyse ist, kann nur gemutmaßt werden. Nachvollziehbar wäre es. 

Davon abgesehen gelingt der Band wieder einmal emotional aufwühlende Songs, die - ganz gleich, ob autobiografisch gefärbt oder nicht - Allgemeingültigkeit besitzen und den Hörer nicht unberührt lassen. Besonders "Tränenklar", Endpunkt eines über jeden Zweifel erhabenen Werkes, sagt nichts Konkretes und doch so viel. Abschied und Trennung werden hier aufs Schmerzlichste verhandelt, der müde wirkende Rhythmus und die sanft angeschlagenen Pianolinien untermalen die innere Leere des Protagonisten mit mollschwangeren Tönen.

Zwischendurch wird der deutlich pessimistischere Tenor bei "Melancholin" immer wieder aufgelockert, was besonders jene Fans erfreuen wird, die sich der Band angenähert haben, als sie offensiv elektronisch agierte. "My Distant Light" und "The Fatalist" greifen auf diese alte Tradition zurück, um sie geschickt mit erdigen Gitarren und akustischem Schlagzeug sanft in eine andere Richtung zu schieben. Ihr Erfolg auf den Tanzflächen der Dunkeldiskotheken dürfte dennoch als gesichert gelten.

Seit nunmehr fast 30 Jahren sind Diary Of Dreams unterwegs und haben von Anfang an einen unikaten Sound geschaffen, den sie immer wieder geschickt variieren. "Melancholin" bildet da keine Ausnahme. Die Band klingt vertraut und doch anders. Diary Of Dreams wirkt vor allem weiter gereift und, vielleicht begründet durch die vielen Schicksalsschläge, nachdenklicher als je zuvor.