Der Harlekin hat seine Kleider abgelegt und vollzieht eine Metamorphose. Nackt, in demütiger Haltung aber mit großen Flügeln, die bereit sind, ihn in eine andere Welt zu tragen, zeigt er sich auf dem Cover zu Lacrimosa's neuem Opus „Lichtgestalt“. Eine Metamorphose haben Tilo Wolff und Anne Nurmi auch musikalisch vollzogen. Beginnt der Opener mit dem ungewöhnlichen Namen „Saphire“ noch im Stil des Vorgängeralbums „Echos“ mit klassisch arrangierten Holzblasinstrumenten, kommt schon nach kurzer Zeit die erste Überraschung. Eine spanische Gitarre bestimmt das Geschehen bevor unvermittelt ein wahres Gewitter aus E-Gitarren über den Hörer hereinbricht.

Tilo's Gesang steigert sich zu einem beinahe schon brutalen Kreischen und zerstört damit die anfängliche Harmonie, um nach diesem Aufbegehren wieder zu einer besinnlichen Suche zurückzukehren. Wow – solche Riffs hat man bei Lacrimosa lange nicht mehr vernommen. Und es geht noch weiter. Auch die folgenden Titel „Kelch der Liebe“ und „Lichtgestalt“ entpuppen sich als rhytmische Rocksongs, in denen die Gitarren gleichberechtigt neben dem Orchester stehen, ja, das Orchester jene mit hartem Stakkato noch anzutreiben scheint. Eine ganz andere Stimmung vermittelt dagegen „Nachtschatten“. Begleitet von leisen, klassischen Arrangements kommt Tilo's Stimme eindrucksvoll zur Geltung und läßt den Hörer an seiner wachsenden Sehnsucht teilhaben, die in ein Duett mit Anne Nurmi bei „My Last Goodbye“ mündet. Tilo Wolff's Gesang wird hier wieder mit Gitarren begleitet und setzt damit einen wirkungsvollen Kontrapunkt zu Anne's weichen Vocals. „The Party Is Over“ birgt eine weitere Überraschung. Tilo singt englisch! Ein melancholisches Liebeslied, das nur dezent untermalt die Sprache in den Vordergrund stellt. Im Gegensatz dazu versprüht „Letzte Ausfahrt Leben“ Optimismus und lädt mit seiner eingängigen Melodie geradezu zum Mitsingen ein.

Lacrimosa wären nicht Lacrimosa ohne ein grandioses Finale. Das „Hohelied der Liebe“ ist ganz große Oper. Vertont wird – wieder eine Überraschung – ein Bibeltext, genauer Kapitel 13 aus dem 1. Brief des Paulus an die Korinther. Obwohl von jedem, der katholisch ist, bestimmt schon tausendmal gehört, schafft es diese ergreifende Interpretation, dem Zuhörer die ganze Schönheit jener Worte zu erschließen. Das Album „Lichtgestalt“ ist ausschließlich einem Thema gewidmet: der Liebe. Lacrimosa haben damit ihr bisher gefühlvollstes Werk geschaffen, das musikalisch eher an ältere Veröffentlichungen wie „Inferno“ oder „Stille anknüpft, indem den Gitarren wieder mehr Bedeutung zukommt. Die diesmal in Minsk (Weißrußland) aufgenommenen Orchesterpassagen wirken zarter, als in den Vorgängern „Elodia“, „Fassade“ oder „Echos“, was die Kompositionen insgesamt direkter und zugänglicher macht. Tilo Wolff's Vocals wissen die Stimmungen der Texte eindringlich zu transportieren und auch Anne Nurmi's Gesang, der für mich auf früheren Alben immer ein kleiner Wermutstropfen war, wirkt ausgereifter.

Das Duo hat all jenen, die sich nach „Echos“ gefragt haben, was jetzt noch kommen könne, mit „Lichtgestalt“ eine mehr als befriedigende Antwort gegeben und.. beschert uns als letzte Überraschung noch einen ganz intimen „hidden track“, zu dem ich an dieser Stelle nichts weiter verraten will.