Müde und schwach klingt Tilo Wolff zu Beginn des 15. Lacrimosa-Albums mit Namen "Lament". Der dumpfe Klang seiner Stimme im Titelstück wirkt so, als säße der Sänger in einem kleinen Verschlag, das karg von einer Kerze beleuchtet wurde, und richtet eine letzte Botschaft an die "Welt da draußen", der er scheinbar für immer entsagen will. Doch dieses "lamentieren", um im Sinne des Albumtitels zu sprechen, wandelt sich im Laufe des zehnminütigen Stücks in den Willen um, dieser Einsamkeit zu entfliehen. Denn wenn nach der Hälfte des Songs die E-Gitarren einfahren, erhebt sich auch der Sänger, der den Refrain, den er zuvor noch verhalten vortrug, nun selbstbewusst und voller Stärke rezitiert.
"Lament" ist deswegen nicht nur Titellied, sondern auch Programm eines Albums, das die "Sturm"-Trilogie nach den Werken "Testimonium" (2017) und "Leidenschaft" (2021) abschließt. Ausgangspunkt waren die Verluste von Menschen aus Wolffs Bekanntenkreis, aber auch der Tod vieler musikalischer Helden und Wegbegleiter. Sie haben dazu geführt, dass sich der Deutsch-Schweizer zunächst mit den großen Themen Schmerz und Verlust befasst hat, um in "Leidenschaft" eben diese näher zu beleuchten. Bereits dort öffnete sich der Lacrimosa-Sound, "Lament" geht nun noch ein Stück weiter.
So bedeutet der Einsatz der Akustikgitarre in "Lament" und dem fast schon in Richtung Dark Folk tendierenden "Ein langer Weg" eine weitere Facette im wolff'schen Klangkosmos, die aber nie wie ein Fremdkörper wirkt, sondern gerade so, als sei es das normalste auf der Welt. Genauso wie die fast schon poppige Leichtigkeit, die sich "In einem anderen Leben" breitmacht. Hier darf die E-Gitarre auch mal 80er typisch gniedeln. Doch steht bei Lacrimosa stets der orchestrale Bombast im Vordergrund, sodass auch solch ein eingängiges Stück nicht der Bedeutungslosigkeit anheim fällt.
Tilo Wolff bleibt auf lange Sicht betrachtet seinen Ideen und Emotionen treu, weiß aber besonders auf diesem Werk mit vielen Raffinessen und ausgeschmückten Details zu überraschen. "Punk & Pomerol" steht beispielhaft dafür. "Ich bin ein Punk und trink meinen Pomerol" erklärt Tilo, und so pendelt der Sound zwischen brachialen Riffs, die von peitschendem Schlagwerk begleitet werden, und einer eleganten Streicherlinie, die dem berühmten Edelwein entspricht. Letzten Endes ist das Lied aber eine Abrechnung mit der verlogenen und auf Selbstbeschiss ausgelegten Gesellschaft.
Und so wandert das Album von einer kleinen musikalischen Überraschung zur nächsten, wechselt in "Du bist alles, was ich will" in ein extrem langsames Tempo, sodass dieses Stück irgendwo zwischen Doom-Metal und Shoegaze verweilt, während Tilo seine ganz eigene Idee einer "Liebeslyrik" zum Besten gibt. Darin liegt die große Stärke des Musikers. Als Alleinherrscher über seine Musik erlaubt er sich seine Eskapaden, die manch einem als zu gewollt und theatralisch erscheinen mögen, aber von einem klaren gesamtkünstlerischen Konzept zeugen, das von musikalischer Genialität flankiert wird.
Schließlich muss man es erst einmal schaffen, stilistische Vielfalt aufzubauen, ohne beliebig oder orientierungslos zu wirken. "Lament" zeigt wie es geht: Jeder Song klingt anders, klingt aufregend und doch bleibt das Album in sich stimmig. Zudem wird mit "Ein Sturm zieht auf" thematisch auf "Nach dem Sturm" und "Führ mich nochmal in den Sturm" der anderen Alben auch der Kreisschluss vollführt, ehe das abschließende "Memoria" das Sturm-Topos würdevoll abschließt. Lacrimosa ist mit der Schwarzen Szene eine innige Hassliebe eingegangen. Einige vergöttern sie, andere wenden sich ab. Doch das 15. Album im 35. Jahr der Band sollte auch den größten Kritiker (zu denen auch der Autor dieser Zeilen gehörte) überzeugen.