Sie waren nie nur "eine Band". Die Geburtsstunde von KMFDM fiel mit einer Ausstellung junger Kunstschaffender im Pariser Grand Palais zusammen. Schon allein dieser Rahmen deutete es an: Die beiden Initiatoren - der Hamburger Sascha "Käpt'n K" Konietzko und Udo Sturm - wollten von Anfang an andere Wege gehen. Das alles geschah vor ziemlich genau 40 Jahren, am 29. Februar 1984. Ob die Malerinnen und Maler, die damals ausgestellt haben, auch heute noch relevant sind, entzieht sich der Erkenntnis. KMFDM sind jedoch immer noch da - und das mit voll aufgeladenen Batterien.

Wer es vergessen oder noch nie gehört hat: KMFDM steht für "Kein Mitleid für die Mehrheit" - zumindest ist das eine Auslegung der kryptischen Buchstabenfolge. Diese aber passt sehr gut, liegt in diesem Satz der Geist des Punk, welchen die Band immer noch, wenngleich in etwas anderer Form, mit sich führt. Sascha, der nach einer ersten Auflösung im Jahr 1999 und dem darauffolgenden kurzlebigen Projekt MDFMK neue Wege beschritt, fand im neuen Jahrtausend wieder zur alten Stärke zurück und präsentiert mit einer schönen Regelmäßigkeit einen energiegeladenen Sound, der sich vornehmlich aus massiven Bassdrums, fiebriger Elektronik und schrebbeligen Stromgitarren speist. Industrial-Rock wird diese musikalische Mische im Allgemeinen genannt und ist in den Vereinigten Staaten äußerst beliebt. Das war auch der Grund, warum Sascha seinen Lebensmittelpunkt Anfang der 1990er dorthin verlagerte. Mit seiner Musik ist er dort erfolgreicher als in unseren Breitengraden.

Doch es muss schon mit dem Beelzebub zugehen, wenn die neue Platte "Let Go" keine amtliche Zustimmung in der europäischen Subkultur bekommen sollte. Allein der Titelsong, der auch die Platte einleitet, ist ein Banger, der den Tanzflur ordentlich bohnert. Dabei traut sich die Nummer, so richtig "Disco" zu sein, brodelige Synthiebasslinien und stakkatohafte Melodien inklusive. Natürlich bleibt auch auf dem 23. Album die breitbeinige, Mittelfinger ausstreckende Attitüde erhalten. Für einige Highlights sorgt der "Käpt'n" und sein Crew vor allem dann, wenn sie mal wieder über den Industrial-Rock-Tellerrand hinausblicken.

So greift der Frontmann unerwartet zum "Erlkönig", einem ikonischen Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe und zeigt sich auf einmal ganz ehrfürchtig. Natürlich schrammeln sich die Gitarren durch den Track, doch gelingt es dem Sänger, die Düsternis dieses Poems hernorzuheben, ohne daraus eine billige Horrorshow zu machen. In diesem Moment wird des Exil-Hamburgers ganze Liebe für die klassische Literatur, die er seinem Stammpublikum in den Vereinigten Staaten hoffentllich gewinnbrigend näherbringt, offenbar.

Neben den Heavy-Beats finden sich also immer wieder interessante stilistiche Abzweigungen. "Touch"  beispielsweise erinnert mit seinen flirrenden Synthiesounds und auch dank der Stimme von Sängerin Lucia Cifarelli angenehm an The Birthday Massacre, und "Turn The Light On" zitiert nicht ungeschickt die Drumfills von New Orders "Blue Monday". Und dann ist da noch "WW2023", eine Neubearbeitung des Songs "WWIII", 2003 veröffentlicht und als bissiges Statement auf die damalige Bush-Regierung konzipiert. Dass diese Nummer also wieder aus der Mottenkiste herausgezogen wurde, ist angesichts aktueller Entwicklungen nur folgerichtig. "I declare war on the world" - zumindest gefühlt scheint es so, dass die gesamte Welt sich in einem kriegerischen Zustand befindet. Wo aber einst der typische KMFDM-Sound zu hören war, gibt es nun eine wilde Melange aus Gothic Rock und dubbigen Reggae-Einschüben mit entspanntem Trompetenklang als Sahnehäubchen.

Und so schafft die internationale Combo auch auf "Let Go" den Spagat zwischen den Stilen, um sich ihnen gleichzeitig zu entziehen. Das aber bei all den Querverweisen am Ende dennoch immer etwas halbwegs - oder wie im Falle von "Let Go" sogar richtig gut - Hörbares herauskommt, ist stets die größte Überraschung, die KMFDM mit jedem Release gelingt. Und das seit 40 Jahren.