Natürlich könnt ich jetzt mit der üblichen Leier beginnen, den jeder pseudointellektuelle Feuilleton-Schreiberling vom anderen abtippt um irgendwie witzig zu sein. Der lustigste Treppenwitz der Musikgeschichte ist verpufft – endlich! Nach 14 Jahren und 15 Millionen an Studiokosten ist „Chinese Democracy“ endlich veröffentlicht wurden. Somit bekommt jeder Ami, der sich registriert hat, nun seine Dr. Pepper Cola – und wir endlich mal wieder ein Album, über das die ganze Welt spricht. Groß waren die Befürchtungen – klein die Erwartungen. Wie klingt eine Band, mit der ich groß geworden bin, die als erste Band überhaupt mein Interesse für Musik weckte. Ich war zehn Jahre alt, als ich nach der Schule in den örtlichen Musikladen flitzte und mir „Use Your Illusion 2“ kaufte. Da ich nur Geld für eine Kassette (CDs waren damals nur was für ganz Verrückte) hatte, musste der erste Teil noch eine Woche auf mich warten.

Was für ein Genuss! Was für eine Tragik, dass wenige Jahre später alles vorbei war. Ohne meine Helden jemals live gesehen zu haben. Dann begann das Warten – „Chinese Democracy“, wo bist du? Unzählige Male wurde es angekündigt – zehn Gitarristen verschlungen. Bis auf Dizzy Reed bleib keiner der alten Bande mehr an Bord. Wer die momentanen Bandmitglieder sind? Who cares! Axl wollen wir hören – Axls Stimme, die Mischung aus einer alten notgeilen Katze und einer gut geölten Kreissäge. Mit der Lizenz für Gänsehaut. Als im Oktober die ersten Meldungen über die VÖ im November an die Öffentlichkeit gelangen, hielten nicht wenige es für den nächsten Witz. Doch die Meldungen blieben hartnäckig. Es sollte wirklich soweit sein. Mittlerweile ist das neue Album in aller Munde. Sogar die konservativsten Medien berichteten in ihren Hauptnachrichten über die kostenfreie Hörmöglichkeit auf MySpace. Kein Medium kann im Moment ohne Axl seine Seiten füllen. Und natürlich muss jeder das Album schlecht reden – logisch, oder? Nach den ersten Durchläufen kann ich sagen, dass ihnen die Pointe wohl im Hals stecken bleiben sollte. Natürlich ist das kein zweites „Appetite For Destruction“. Aber wer das erwartete (und wer das wollte), glaubt wohl auch noch an den Weihnachtsmann. Es ist Axls Vision von der perfekten Musik. Teils wahnsinnig überladen, teils überraschend transparent, teils heftig pathetisch und dann doch wieder höchst zerbrechlich.

So finden viele Kritiker gerade den Beginn mit dem leicht sperrigen Titeltrack und dem Industrialangehauchten „Shackler’s Revenge“ für voll verbockt. Nix da, denn der Opener setzt sich tief im Hirn fest und bleibt da für einiges länger als alle Songs des neuen Metallica-Albums zusammen. Gerade der Beginn versöhnt für die harten Jahre des Wartens. „Shackler's Revenge“ klingt zwar sehr überfrachtet und mit dutzenden Gesangspuren, doch das Chaos entwirrt sich schon nach dem zweiten Durchlauf und wird zur perfekten Symbiose aus monotoner Kälter und süßer Melodie. Klasse Track! „Better“ beginnt mit mädchenhaftem Gesang, um sich dann in einen heftig posenden Rocker zu verwandeln. Ein Stück, der im Refrain sogar alten 80er-Fetischisten befriedigen könnte. Axl rotzt und schreit ungestüm und auch die Gitarren klirren wütend aus den Boxen. Dann wird es erstmalig sanfter und Axl singt und kreischt sich durch die „Street Of Dreams“ (schwirrte als „The Blues“ bereits seit Jahren durchs Web). Viele Geigen, viel Keyboard und ein toller Songaufbau lassen Erinnerungen an die großen Rock-Balladen aufkommen. Auch mit dem folgenden „If The World“ wird es nicht schlechter. Eine spanische Gitarre eröffnet den sperrigen Stampfer, der auch so ein ungemütlicher Ohrwurm werden kann.

Mit „There Was A Time“ kommt es zu ausufernden Gitarrensoli, die auch Axl nicht zu bändigen weiß. Jedes Lied ist eine Schatztruhe, die erst in Ruhe durchforstet werden muss. Dennoch können die folgenden „Catcher In The Rye“ und „Scraped“ mich nicht hundertprozentig überzeugen. Mit „Riad N’ The Bedouins“ wird es wieder wilder, aber noch nicht viel besser. Doch diese drei Ausreißer kann man verkraften, denn mit „Sorry“ (Gänsehaut!!!) und „I.R.S“ wird es dramatisch besser. Was dann mit „Madagaskar“ folgt ist nur als Größenwahnsinnig zu bezeichnen. Auf einen schwermütigen Beginn voller Bläser, Geigen und einem leidenden Axl schließt sich eine Wand aus Jimmy-Page-Riffs und theatralischen Samples (u.a. „I Have A Dream“ von Martin Luther King – aber auch ein Thema aus „Civil War“). Auf das Schwergewicht folgt die zerbrechliche Ballade „This I Love“, mit der sich Axl mit seiner verstorbenen Mutter versöhnt. Große Gefühle, untermalt von Klavier, Streichern und einem wunderschönen Gitarrensolo. Er kann es immer noch. Der Meister ist wahrhaft zurück.

Den Schlusspunkt setzt „Prostitute“, das den Hörer nach knapp 70 Minuten aus Axls Universum wieder freigibt. „Chinese Democracy“ ist überladen, großkotzig und unglaublich vielschichtig. Aber hey – das ist eben Axl. Eine Maniac, ein unkontrollierbares Monster. Aber ein Kerl mit unendlich viel Talent. Und dieses packt er endlich aus. Auch wenn Axls Stimme mit seinen 46 Lenzen nicht mehr ganz die Qualität früherer Tage aufweist, so kann mir kein echter Fan erzählen, dass er nicht sofort wieder ins Schwärmen verfällt. Kein Mensch sollte das Werk mit „Appetite For Destruction“ vergleichen. Mit „Use Your Illusion“ ebenfalls nicht. Seit diesen Werken hat sich der Grunge, Nu Metal und was weiß sonst noch entwickelt. Davon bleibt auch ein Axl Rose nicht verschont. Doch die von vielen Kritikern prophezeite Katastrophe ist ausgeblieben. Überraschenderweise (und zum Glück) ist „Chinese Democracy“ ein großartiges, fassettenreiches und komplexes Rockalbum geworden. Kalt, manchmal verstörend aber mit großartigen Songs, tollen protzigen Gitarrensoli und einem Axl Rose, der trotz seines fortgeschrittenen Alters noch über eine außergewöhnliche Stimme verfügt. Grandios!