Goethes Erben - Am Abgrund

Goethes Erben - Am Abgrund

Es ist nun schon einige Zeit vergangen, seitdem ‘Am Abgrund’ erschien. Ich brauchte aber auch meine Zeit mit der letzten Veröffentlichung von Goethes Erben, wir mussten um einander herumschleichen, mussten uns kennenlernen und dann liebgewinnen. Doch nun beginne ich diesen Text in dem Wissen, dass sich ‘Am Abgrund’ in meinen Ohren tatsächlich als eines der stärksten Alben in der reichhaltigen Diskographie erwiesen hat. Wow.

Zunächst muss klargestellt werden: ‘Dazwischen’ aus dem Jahre 2005 bleibt das wohl letzte Album in der Urkonstellation Oswald Henke und Mindy Kumbalek. 2012 wurde offiziell bekanntgegeben, dass Kumbalek sich aus der Öffentlichung zurückgezogen hatte und alle Live-Aktivitäten bestritt Henke seitdem “nur” mit Gastmusikern. 2015 erschient mit ‘Menschenstille’ ein Tondokument zum gleichnamigen Musiktheaterstück, anspruchsvoll, herausfordernd, durchaus schön – ein wirkliches neues Album aber war es in meinen Ohren nicht. ‘Am Abgrund’ ist also das erste richtige Goethes Erben seit über 10 Jahren und da die ersten Titel des Albums in meinen Ohren die nur bedingt wirken, war das Kennenlernen eher eine Enttäuschung. Wie falsch ich doch lag.

Wer genau Goethes Erben nun sind, das weiß nicht wirklich: Auf der Homepage sehe ich eigentlich nur Oswald Henke, alle Texte sind natürlich weiterhin aus seiner Feder. Im Booklet wird aber von den Mitgliedern als “wir” gesprochen, Tobias Schäfer und Tom Rödel zeichnen sich für die Musik verantwortlich und Markus Köstner und Bernd Friebe waren weiterhin als Musiker beteiligt. Instrumental wirkt das Album auf mich nach den fast opulent inszenierten letzten regulären Alben oftmals wie eine Rückbesinnung: Trotzdem E-Gitarren und “weite” Arrangements Platz finden (wie zum Ende des einleitenden “Wucht”), ist es vor allem das Zusammenspiel aus Elektronik und Piano, das im Zentrum steht. “Wucht” und die folgenden “Es ist still” und “Rot” sind wirklich schöne Titel, jedoch sind sie in meinen Ohren als Albumeinleitung fehlplaziert: Sehr ruhig, sehr leise – ich wollte doch nicht noch ein Album wie ‘Menschenstille’, dass extrem reduziert ist. “Verstümmelung” ist in meinen Ohren geeigneter als musikalische Einleitung zum Album. Die düstere elektronische Abwärtsspirale mit dramatischem Drumming sind die perfekte Vorbereitung für das wütende, elektronisch-drückende “Darwins Jünger” – Henke schreit, flucht und wütet wie früher und ich bin schon jetzt mehr als glücklich. Nach einem solchen Kracher wirkt die anschließende Piano-Ballade “Denn es ist immer so” ganz anders wie die einleitenden Lieder, beruhigt den Hörer. “Lazarus” ist ein ein wunderbar wütendes Stück politischen Auskotzens – darf Henke das? Sicherlich wird er polarisieren, will es aber auch und er findet zumindest in meinen Ohren den richtigen Ton und die dazu passende akustische Untermalung. “Zu lang geschwiegen” erinnert mich musikalisch an ‘Dazwischen’Zeiten, ein melancholischer Reigen, dem sich mit “Schlaflos” ein wunderbarer Popsong anschließt

Textlich ist Oswald Henke wie auch gesanglich gewöhnungsbedürftig-genial. Immer nahe dem Wahnsinn halte ich ihn für einen der besten deutschsprachigen Künstler sowohl in Wort als auch Intonation. Leider erinnere ich die schriftlichen Hinterlassenschaften der letzten Jahre zum Teil als sehr zwiespältig. Im rockigen Projekt Henke kamen andere Themen und eine klarere Sprache zum Einsatz – einfach klasse. Unter Fetisch:Mensch habe ich furchbare Texte abgespeichert (“Narbenkinder”) und auch seine Kommentare in den sozialen Medien waren in meinen Augen ein Schatten alter Stärken und wirkten zum Teil arrogant und plump. Die Texte der ‘Menschenstille’ überzeugten mich in Teilen - ‘Am Abgrund’ ist, als ob Henke klarstellen wollte: Ich kann es noch. Und wie. Mal kryptisch, apokalyptisch dann zum Teil überraschend politisch, zynisch und direkt wie in “Darwins Jünger” und “Lazarus”.

Es könnte sich zu meinem liebsten Erben Album mausern, es ist zumindest auf dem besten Wege dahin und ich habe die 5 Monate gebraucht, um das zu erkennen. Vielen Dank für diesen Paukenschlag der deutlich macht: Die schwarze Szene ist zwar nur noch ein Schatten ihrer Selbst, jedoch kann sie noch echte Juwelen hervorbringen.

KOMMENTARE

Jan schreibt am 03.04.2019

Puh, das Album gibt mir keinerlei positives Feedback . Wer hört sich sowas noch an?

Marko schreibt am 09.27.2020

Ich muss sagen, dass ich mich mit Am Abgrund überhaupt nicht schwer getan habe. Die Scheibe ist für mich tatsächlich das beste Erben Album und ich möchte keine Song missen. Danke Oswald für Deine wunderbaren Worte und auch Danke an Horst für den Artikel.


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