Weihnachten ist also vorbei, es ist wieder Montag, der Baum nadelt so vor sich hin und irgendwo zwischen Plätzchenrest, Kalenderleere und latentem Silvesterstress stehen plötzlich zwei Tage Normalität vor der Tür. Ächz! Diese komische Zeit zwischen den Jahren, in der man eigentlich nichts mehr anfangen will, aber auch noch nicht ganz im neuen Jahr angekommen ist. Genau in diesen Schwebezustand platzte bei mir ‘First Aid 4 Souls Feat. Divas Of The Dark – Progenitrix’, veröffentlicht am 12. Dezember 2025 – und traf erstaunlich ins Schwarze. Zu dunkel für Restweihnacht, zu intensiv für Nebenbei-Hören, aber perfekt, um sich noch einmal bewusst in Musik zu verlieren, bevor am 31. wieder alles knallt.
Schon der Projektname macht unmissverständlich klar, dass hier kein klassisches Album mit ein paar dekorativen Gastauftritten vorliegt. First Aid 4 Souls Feat. Divas Of The Dark ist ein bewusst benanntes Kollektiv – und genau so fühlt sich ‘Progenitrix’ auch an. Mastermind István Gazdag rückt die beteiligten Künstlerinnen nicht an den Rand, sondern stellt sie ins Zentrum des Geschehens. Das Album lebt von diesen Stimmen, von ihren Eigenheiten, ihrer Präsenz und ihrer Vielfalt. Wer hier noch von „Features“ sprechen will, hat das Konzept nicht verstanden. Das ist kein One-Man-Projekt mit weiblichem Beiwerk, sondern ein kuratiertes Gemeinschaftswerk mit klarer Haltung.
Musikalisch bedeutet ‘Progenitrix’ eine deutliche Abkehr von der früheren, oft harschen Industrial-Ausrichtung von ‘First Aid 4 Souls’. Die Flex bleibt diesmal im Koffer, stattdessen regieren eher Darkwave, Goth und Post-Punk, getragen von warmen, analogen Synthesizer-Sounds. Die liebevoll restaurierten Vintage-Synths und Sampler aus den Achtziger- und Neunzigerjahren sorgen für eine angenehm körnige, lebendige Textur. Nichts klingt klinisch, nichts nach Laptop-Preset. Die Musik atmet, schwebt, pulsiert – manchmal verführerisch, manchmal latent bedrohlich, aber immer kontrolliert. Die Beats drängen selten nach vorne, die Basslinien kriechen eher, und über allem liegt eine konstante Spannung, die das Album erstaunlich geschlossen wirken lässt. Fein!
Das eigentliche Herz von ‘Progenitrix’ sind jedoch die beteiligten Künstlerinnen – und hier lohnt sich ein genauerer Blick. Emke von ‘Black Nail Cabaret’ eröffnet auf ‘The Hater’ das Album mit einer kühlen, selbstbewussten Präsenz, die sofort klar macht, wohin die Reise geht. Marita Volodina von ‘Stridulum’ und ‘Blood Tears After’ ist gleich auf mehreren Stücken vertreten – ‘Hunger’, ‘Ghost’ und ‘Du’ – und bringt eine eindringliche, fast rituelle Tiefe ein, die dem Album eine starke emotionale Klammer verleiht. Ihre Stimme wirkt weniger wie ein Gastauftritt, sondern wie ein tragendes Element dieses Werks.
Celina prägt ‘The Poison’ mit einer fragilen, leicht gefährlichen Note, während Ruth García Núñez De Arenas von ‘From Hell’ auf ‘Lost In Love’ eine verletzliche, emotionale Seite zeigt, die das Album spürbar öffnet. ‘Don’t Touch Me’ mit Aux Animaux überzeugt durch eine kühle, distanzierte Ausstrahlung mit enormem Charisma – genau diese Art Spannung, die Darkwave erst richtig interessant macht. Aleksandra Rempel verleiht ‘Ace Of Cups’ eine fast mystische Aura, während Kriistal Ann von ‘Paradox Obscur’ auf ‘Rotten Core’ mit markanter Präsenz und Selbstbewusstsein punktet. Linda Daemon fügt ‘Seven Deadly Sins’ eine weitere Facette zwischen Verführung und Bedrohung hinzu, bevor Valanaïs (Valérie Hendrich) auf ‘Le Jeu’ eine elegante, leicht verspielte Nuance ins Spiel bringt. Dass Marita Volodina mit ‘Du’ den Abschluss gestaltet, fühlt sich dabei fast wie ein bewusst gesetzter Kreis an.
Was mich persönlich an ‘Progenitrix’ besonders überzeugt, ist genau diese Balance: Trotz der Vielzahl an Stimmen und Persönlichkeiten wirkt das Album nie zerfahren oder beliebig. Alles greift ineinander, alles folgt einer klaren ästhetischen Linie. Das feministische Moment ist deutlich spürbar, kommt aber ohne platte Parolen aus. Stattdessen spricht die Musik selbst – durch Präsenz, durch Vielfalt und durch eine spürbare Ernsthaftigkeit im Umgang mit den beteiligten Künstlerinnen. Dass ‘Progenitrix’ als erster Teil einer geplanten Duologie gedacht ist, verleiht dem Album zusätzliche Tiefe, ohne es unfertig wirken zu lassen. Es steht vollkommen für sich und funktioniert auch ohne den angekündigten Gegenpart.
Unterm Strich ist ‘First Aid 4 Souls Feat. Divas Of The Dark – Progenitrix’ ein Album für all jene, die dunkle elektronische Musik lieben, aber genug haben von reiner Härte und eindimensionalem Industrial-Druck. Wer Darkwave, Goth und analoge Elektronik als emotionalen Raum versteht, wird hier tief eintauchen können. Weniger glücklich dürften Hörerinnen und Hörer werden, die kompromisslosen Lärm oder klare Club-Waffen erwarten. Für mich ist ‘Progenitrix’ ein Release, das perfekt in diese stillen Tage zwischen den Jahren passt: sinnlich, intensiv und angenehm nachhallend – und eines dieser Alben, die man nicht einfach hört, sondern bewusst erlebt.
First Aid 4 Souls Feat. Divas Of The Dark - Progenitrix
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