Es gehört zur Berufsehre eines Musikkritikers, ein Album im Kontext des Werdegangs des Künstlers oder der Künstlerin zu betrachten. In der Regel hält die Recherche kaum Überraschungen bereit. Sei es, weil die Kunstschaffenden ein schmales Oeuvre vorzuweisen haben, oder weil sie ihren "Signature-Sound", wie man im Neudeutschen so unschön sagt, bereits vor Jahren festlegten und ihn seitdem nur noch in Nuancen veränderten. Und dann gibt es Dernière Volonté - ein französisches Projekt des Musikers Geoffroy D., dessen Klangkosmos ungemein spannend ist. Denn dieser befindet sich von Album zu Album in einer stetigen Metamorphose. 

Sein erstes Album "Obeir Et Mourir" war ein Monster von einem Martial Industrial Album. Das war 1998, also vor knapp 25 Jahren. Von da an ging die musikalische Reise manch verschlungene Wege. Die schweren Sounds wichen mit den Jahren einer eingängigeren Songstruktur. Dark Folk oder auch Military Pop wurden zu Geoffroys neuen Steckenpferden. Nun steht Dernière Volonté (deutsch: letzter Wille) mit beiden Beinen in einem Hybrid aus melancholischem Synth-Pop und Minimal-Wave, der durch den eleganten Klang der französischen Texte noch mehr Tiefe enthält - ganz gleich, ob man diese Sprache versteht oder nicht. Was "Cristal" nun so bedeutend und gegen Ende des Jahres noch zur wichtigen Veröffentlichung macht? Es ist das ungetrübte, transparente Arrangement der zehn Songs, die an alte Wave-Zeiten anknüpfen. 

Dernière Volonté verzichtet bewusst auf musikalische Spezialeffekte und zieht sich in einen klar abgestecktes Klangareal zurück, das von orgeligen Synthesizerlinien durchzogen ist, während die trockene Rhythmussektion sich nicht zu sehr in den Vordergrund spielt. Die Ausbalanciertheit des Instrumentariums gibt den Songs die Möglichkeit, sich voll zu entfalten und den Kern ihres Wesens freizulegen. Das kann natürlich bei unzureichendem Material schnell nach hinten los gehen. Die Folge: Solche Lieder sind an Langeweile kaum zu überbieten. Bei "Cristal" passiert genau das Gegenteil. Durch den sparsamen Umgang mit Flächen und Sequenzen beißen sich die Songs noch mehr im Kopf fest. "Accords perdus", "En Espagne" und "J'abandonne" zählen in diesem Fall zu den aufregenden Glanzlichtern einer insgesamt schlüssig konzipierten Platte. Die Refrains zünden beim ersten Hören, die spröden Melodien besitzen einen Hang zur schummrigen 80er-Romantik und Geoffroys Gesang wirkt zu gleichen Teilen teilnahmslos und eindringlich. 

Ein bisschen fühlt man sich an Dioramas erstes Album "Pale" oder an die Klangästhetik von Still Silents "Shockwaved" erinnert, nur eben ohne Stromgitarren. "Cristal" ist ein für das Projekt zukunftsweisendes Album geworden, das die Industrial-Vergangenheit so gut wie hinter sich lässt und nur noch als kaum mehr auszumachende Spurenelemente in Stücken wie "Sirene automatique" und "Je ne respire plus" auftaucht. Dernière Volonté gelingt ein überraschend großer Wurf. Was da wohl als nächstes kommen mag? Man wird sehen. Zunächst gilt es aber, dieses Album hart zu feiern.