Man mag es ja kaum fassen: Das Fortleben lässt eine musikalische Tradition fortleben, die meinem Gedächtnis nach fast ausgestorben war. Denn das Duo, bestehend aus Texter und Sprecher Luke J.B. Rafka und Tastenverwöhner Borislav Schultheiss, knüpfen an Zeiten an, als Relatives Menschsein noch aktiv waren, Goethes Erben noch casio-quäkig klangen und Das Ich noch "Gottes Tod" besangen. Doch das Debut "Der Mensch ist los" muss aus zwei Blickwinkln betrachtet und bewertet werden: dem musikalischen und der lyrischen.

Für ein selbstproduziertes Album klingt "Der Mensch ist los" erstaunlich gut. Der Sprechgesang ist immer verständlich, die Synthies sind abwechslungsreich und stimmungsvoll und die (manchmal auftauchenden) Bässe nicht zu platt(walzend). Ein schönes Wechselbad der Stile: Dark Wave, Elektro und ein wenig Minimal. Das Fortleben wissen, wie man nostalgische Gefühle aufleben lässt und denoch nicht nur retro klingt. Das düstere "Todeswunsch", der etwas plakativ klingende aber ins Ohr gehende, elektrolastige Titeltrack, das an Kraftwerk meets Calva y nada erinnernde "Das Herz" – ein musikalisch schöner Einstieg. "Anstalt" und "Massengrab: Mensch" bauen eher eine Stimmung auf als Lieder zu sein. Im Anschluss folgen mit "Heilig Blut" und "Inflationsbereinigung" die in meinen Ohren mitreißendsten Stücke, der Albumrest tut im Anschluss keinem weh, reißt einen aber auch nicht vom Hocker.

Stimmlich ist Herr Rafka leider nicht gleichauf mit Henke oder Ackermann. Hierfür ist seine Stimme zu dünn. Aber die pathetische Betonung stimmt schon einmal und für das Nostalgiefeeling ist alles mit an Bord. An dieser würde ich normalerweise 4 bis 4,5 Punkte eben und zum gelungenen Debut gratulieren. Aber Das Fortleben wollen ja etwas mit ihrer Musik bewirken. Dieser Musikstil kreist um die Texte und deren Vortrag und ihr Inhalt entscheidet letztendlich auch über die Qualität des Restes (zumindest wesentlich mehr als bei zum Beispiel Black Metal oder Industrial, bei denen die Protagonisten auch Kochrezepte rausschreien könnten und alle würde mitfeiern). Eine Kampfansage soll das Album sein, man will aufrütteln: Die Allmacht der Politik, allumfassende Überwachung der nicht mündigen Bürger, Konsumwahn und das Geld als großes Übel der Menschheit – das sind die Themen, die aus dem Standartthemensuppentopf gefischt wurden. Mir tut es ein wenig leid, hier so hart ins Gericht ziehen zu müssen, aber eine Fokussierung auf einen bestimmten Bereich wäre etwas weniger "gewöhnlich". Doch jede politische und gesellschaftliche Kritik in der Musik ist wichtig (ja, auch diese sehr klischeehafte), wenn sie gut vorgetragen wird.

An dieser Stelle muss ich nach vielen vielen Hördurchläufen leider auch eine Bauchlandung attestieren. Die Texte von Das Fortleben sollen anspruchsvoll sein und klingen bei erstem und wenig aufmerksamen Hören auch schwer nach den alten Vorbildern. Bei genauerem Lauschen fallen aber die Mängel auf: Da wird anspruchsvoll konstruiertes Deutsch mit Umgangssprache verwässert, die Wortwahl ist nicht immer gelungen, Grammatikfehler schleichen sich ein, manche Sätze verpuffen inhaltlich im Nichts – gerade bei einem solch textlastigen Album ist jeder Fehler an dieser Stelle ein derber Makel. Können wenigstens die Inhalte den angestrebten Anspruch trotz etwas hakeliger Sprache transportieren? Entscheidet selbst, zum Beispiel anhand zweier Textausschnitte: "Das arme Volk, wie Waren in den Händen der peitschenden Kreaturen gehalten. Jetzt sollen wir bezahlen, sollen wir bluten für derer mächtigen Ignoranz. Ein Querschnitt durch die gesamte Bevölkerung der Erde lässt einen Zündfunken des friedlichen Widerstandes sprechen. Die Machthabenden jedoch zertrümmern diese Gedanken mit gewaltvollen Taten. Das Herz klopft nur für einen selbst." (aus "Das Herz") "Das Zinsformat, eines der schlimmsten Krankheiten dieser Welt, es frisst die Armut auf und lässt den Reichtum immer fetter werden" (aus "Blut der Erde") Gerade das letzte Zitat brachte für mich die Entscheidung, deutliche Kritik zu üben. Was ist ein Zinsformat? Warum bezieht sich der unbestimmte Artikel auf das Format und nicht auf die eigentlich dazugehörende Krankheit (eine statt eines)? Warum freuen wir uns nicht, wenn die Armut aufgefressen wird – dann ist sie doch weg? Und von mir aus kann der Reichtum ruhig fetter werden, wenn er gleichmäßig verteilt wird.... also Reichtum von wem? Ich mag kleinlich sein, aber wenn anspruchsvoll, dann bitte auch anspruchsvoll.

Es tut mir wirklich leid, denn musikalisch kann Das Fortleben wirklich punkten und wir alle wissen, dass die aktuelle Gothic Szene wirklich wieder mehr politisch und gesellschaftlich kritische Bands gebrauchen könnte. Aber vielleicht sollten Das Fortleben entweder ihre Sprache und den Pathos ein wenig zurückschrauben und ehrliche und zu ihnen passende Texte niederschreiben (Kritisch muss nicht intellektuell bedeuten – "Fernes Leid" von Calva y nada zeigte deutliche Gesellschaftskritik mit einfachster Sprache) oder sie lassen von nun an alles von 3 bis 4 Germanisten gegenlesen auf Sprache, Stil und Inhalt. Denn das angestrebte Ziel ist erreichbar, die Umsetzung gerade des zentralen Elementes aber noch deutlich zu schwach.