Wenn Musik Erinnerung speichert, dann wird Polygon Reflections der Soundtrack einer verdrängten Wunde. Am 29. August 2025 – dem 76. Jahrestag des ersten sowjetischen Atomwaffentests – erscheint das neue Album der kasachisch-britischen Komponistin, Violinistin und künstlerischen Chronistin Galya Bisengalieva. Es ist eine Fortsetzung – oder besser: eine klangliche Spiegelung – ihres 2023 veröffentlichten Albums Polygon, das bereits eindrucksvoll das nukleare Erbe des ehemaligen sowjetischen Testgeländes Semipalatinsk in ihrer Heimat Kasachstan vertonte.
Doch Polygon Reflections ist weit mehr als ein klassisches Remix-Album. Es ist eine vielstimmige Auseinandersetzung mit einem historischen Trauma – neu interpretiert durch einige der spannendsten Namen der internationalen Klangkunst: The Bug, Aïsha Devi, KMRU, Hatis Noit, Lucy Liyou, Hinako Omori, Balkhash Dreaming und der deutsche Soundtüftler Alva Noto verleihen den ursprünglichen Kompositionen neue Perspektiven. Jeder Beitrag wirkt wie ein Echo aus der Tiefe – auf Orte, die in westlicher Wahrnehmung kaum mehr sind als Koordinaten auf einer Landkarte, aber in Wirklichkeit Schauplätze von jahrzehntelangen Experimenten an Mensch und Natur waren.
Der Veröffentlichungstermin ist bewusst gewählt: Am 29. August 1949 zündete die Sowjetunion auf kasachischem Boden ihre erste Atombombe, Codename RDS-1. Bis 1989 folgten 455 weitere Tests, viele davon oberirdisch – mit katastrophalen Folgen. Verstrahlte Dörfer, entstellte Körper, gebrochene Biografien. Ganze Landstriche wurden geopfert, während Moskau das Gelände zynisch als „unbewohnt“ deklarierte. Tatsächlich war es eine Region reich an Geschichte, Dichtung, Musik und ökologischer Vielfalt – Heimat von Nomadenvölkern, Künstler*innen und dem Nationaldichter Abai Quananbaiuly.
Dass dieses Album nun in einer Zeit erscheint, in der Russland erneut Krieg nach Europa bringt und offen mit Atomwaffen droht, verleiht Polygon Reflections eine erschreckende Aktualität. Der atomare Wahnsinn ist keine Fußnote des Kalten Kriegs – er lebt fort, in politischen Drohgebärden, in Arsenalen, in Denkstrukturen. Wer meint, das alles ginge uns nichts an, sollte genau hinhören: Wenn The Bug mit wuchtigem Maschinenstampfen Alash-Kala zerlegt oder Aïsha Devi in Chagan Zeit und Raum auflöst, dann wird der Horror plötzlich greifbar. Bereits Aralkum, Bisengalievas 2020er-Debüt über das Verschwinden des Aralsees, war ein akustischer Weckruf. Polygon richtete den Blick auf das radioaktive Erbe – und jetzt ruft sie ihre Weggefährt*innen zur kollektiven Klangverarbeitung auf. Kein Verklären, kein Verdrängen – sondern Verfremden, Verdeutlichen, Erinnern. Das Ergebnis klingt wie der Score eines Films, den niemand je drehen wollte – aber den die Geschichte geschrieben hat.
Neben den bereits veröffentlichten Stücken von Aïsha Devi (Chagan), Hinako Omori (Balapan), The Bug (Alash-Kala) und KMRU (Saryzhal) erscheint das vollständige Album am 29. August bei One Little Independent / Bertus – digital und als Vinyl. Als Bonus gibt es einen zusätzlichen Track von Kevin Richard Martin – The Bug in anderer Form, aber mit ähnlicher Sprengkraft.
Und wem Galya Bisengalieva bislang noch kein Begriff war, sollte einen Blick in die Credits großer Produktionen werfen. Ihre Violine ist auf Radioheads A Moon Shaped Pool zu hören – als Teil des London Contemporary Orchestra, das die orchestralen Elemente einspielte. Auch bei Taylor Swifts The Tortured Poets Department wird sie als Violinistin in mehreren Tracks gelistet. Als Solistin bewegt sich Galya souverän zwischen Klassik, Avantgarde und experimenteller Elektronik und trat bereits in namhaften Konzerthäusern und auf internationalen Festivals auf.
Polygon Reflections ist keine Musik zum Wegträumen. Es ist ein Weckruf. Eine Erinnerung daran, was war – und was wieder möglich ist. Für alle, die noch zuhören wollen.
Am Jahrestag der ersten sowjetischen Atombombe erscheint Polygon Reflections von Galya Bisengalieva

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