Es gibt Abende, da weiß man vorher schon: Das wird kein Spaziergang. Und dann gibt’s Welle:Erdball in München im Jahr 2025. Schon der Blick auf die Vorzeichen dieses Konzerts ließ selbst optimistische Gemüter skeptisch die Stirn runzeln: Verlegte Shows in Magdeburg und Oberhausen wegen Krankheit. Frankfurt? Komplett gestrichen. Und dann auch noch die Schockmeldung kurz vorm Konzert: Sänger Honey liegt im Bett und ist krank. Und zwar so richtig! Nun, man konnte nicht behaupten, dass man es nicht geahnt hätte. In Lindau wurde die Show am Tag zuvor schon heldinnenhaft ohne Sänger durchgezogen – eben nur mit LadyLila und M.A.Peel. Im Netz: Blöde Kommentare, Lob, Respekt und Frauenpower-Parolen. Der Autor dieser Zeilen, der sich schon lange auf das Münchner Konzert freute, war sehr sehr skeptisch, denn auch A.L.F. hatte sich mit OP und Reha ja schon im Vorlauf verabschiedet. Jetzt also auch noch Honey im Fieberdelirium in Nürnberg. Ehrlich, es fehlte nur noch, dass der Commodore 64 seinen Steckdosentod gestorben wäre. Aber: Die Karte war gekauft, die Entscheidung gefallen – Augen zu und durch. Wer braucht schon einen Sänger, wenn man Popcorn und 8-Bit-Romantik hat?
Also, offizieller Einlass im Backstage um 19 Uhr? Haha. Um 19:30 stand noch immer eine riesige Schlange vor dem Laden und Foto-Helge suchte verzweifelt den richtigen Eingang. Vermutlich hatten sich die Türsteher ebenfalls gedacht: "Ohne Honey? Da lassen wir uns Zeit." Trotz allem: Die Halle war zum Start der Vorband Versus überraschend gut gefüllt – vielleicht lag’s an der Neugier, vielleicht auch am Münchner Pflichtbewusstsein. Und dann ging der Abend richtig los ...
Versus: Der Presseclub im KLF-Shirt
Die Jungs aus Dresden traten zu zweit auf – einer machte Musik, der andere redete. Viel. Der Sänger war nicht nur kommunikativ, sondern auch bestens vorbereitet: Geschichten, Gesundheit, Statements, Gesellschaftskritik und auch ein KLF-Shirt für die Credibility. Der Elektropop war solide, ohne Ausreißer nach oben oder unten. Leider wurde stellenweise vergessen, dass wir auf einem Konzert und nicht im Politseminar sind. Natürlich hat der Mann in vielem recht – aber zwischen “Schweben und Fliegen” will ich nicht unbedingt das Kleingedruckte des Grundgesetzes analysieren. Fun Fact am Rande: Der Sänger von Versus mutierte später zum Keyboarder von Welle:Erdball und schmiss sich dafür stilecht in Anzug und Krawatte. Dresscode: 100 Punkte.
Welle:Erdball – Das Skelett tanzt!
Nach dem kurzen Umbau betrat dann das musikalische Rückgrat von Welle:Erdball die Bühne: LadyLila, M.A.Peel und eben der frisch umgestylte Keyboard-Gast. Keine Honey-Illusion, keine Einspieler – fast nur pure Frauenpower und ein bisschen Mut zur Lücke. Eine der Damen (verzeiht mir, ich weiß nicht mehr welche) erklärte charmant und direkt die dürftige Situation: Honey liegt krank flach, aber man werde das heute schon schaukeln. Einige um mich herum sahen überrascht aus – scheinbar hatte Facebook nicht alle erreicht. Vielleicht liegt’s an diesem Algorithmus, der mehr Katzenvideos als Konzertabsagen zeigt.
Showtime mit Überraschungseffekt
Der Startschuss fiel – und gleich wurde klar: Die beiden Damen hatten einen Plan! Gesangsparts wurden clever gewechselt, vermutlich um die Stimmbänder zu schonen – und es funktionierte erstaunlich gut! Spätestens beim fünften präsentierten Song „Mumien im Autokino“ wurde schnell klar: Stimmung kann man auch zu zweit machen. Wer zuvor auf Facebook von „Background-Sängerinnen“ sprach, sollte spätestens jetzt die Löschfunktion suchen. LadyLila und M.A.Peel rockten die Bühne mit Charme, Witz und Präzision. Zugegeben: Bei zwei Songs war die Stimme mal etwas dünn, aber die Sängerin korrigierte das sofort mit mehr Druck – hier würde ich einfach mal frech dem Tonmensch die Schuld geben. Was soll’s, selbst bei Kraftwerk knarzt mal ein Kabel.
Auch danach ging es fett weiter - mit „8-Bit Raumstation“, ein Song wie ein interstellarer Urlaub auf dem NES. Man roch förmlich den Schweiß von Commander Shepard und den Staub von Marsrover Curiosity. Dazu blinkende Projektionen, rotierende Pixel und ein Keyboarder im Anzug, der aussah, als hätte er gerade einen Termin beim Finanzamt platzen lassen, um hier aufzutreten. Dann der Song „Türspion“ sozusagen als schleichende Ballade für paranoide Menschen mit Altbauwohnung. Ich sah mehrere Leute im Publikum demonstrativ die imaginäre Kette an ihrer Wohnungstür kontrollieren. Und dann kam sie, meine persönliche Favoritin des Abends: „Lady Dracula“! Vampirpop mit Synthiegebiss und Charme. Die Halle: halb Transsilvanien, halb Commodore-Labor. M.A.Peel biss metaphorisch ins Mikro, LadyLila streute Glitzer wie eine dunkle Fee mit Restenergie.
Mit „1000 Engel“ wurde’s kurz andächtig – Engel überall, wahrscheinlich auch am Lichtpult, denn die Stimmung war himmlisch. Dann „Volksempfänger“, das Lied für alle Freunde des zivilisierten Widerstands mit Dackel und Antenne. Der Bass dröhnte, die Botschaft war klar: Retro ist mehr als nur Design.
Pause, Popcorn und Plakat-Mysterien
Nach einer kurzen Umbaupause (die klassischen 6,8 Minuten), die Damen frisch und fesch umgezogen, ging’s weiter. „Pareidolie“ war dann fast schon zu poetisch für mein alkoholfreies Bier. Gesichter im Rauschen, Seelen in der Steckdose – und plötzlich hielt jemand sein Handy wie eine Fackel hoch. Keine Ahnung, ob aus Ehrfurcht oder GPS-Verlust. Und dann, „VW Käfer“ – endlich! Das Publikum jubelte, als hätte jemand eine Zeitmaschine gestartet. Während der Synthesizer den Motor imitiert, wippten Köpfe im Takt, als wären sie Stoßdämpfer auf Kopfsteinpflaster. Für einen kurzen Moment roch es fast ein bisschen nach Benzin, Nostalgie und Vergaßerschaden – oder es war doch nur die Nebelmaschine.
Achja, hinter den fünf Projektionsflächen lauerte im übrigen ein riesiges Welle:Erdball-Plakat – ich wartete die ganze Zeit darauf, dass es theatralisch enthüllt wird wie bei The Wall. Aber nix da. Vermutlich war die Decke zu niedrig oder die Idee zu hoch. Dafür gab’s den nächsten Moment für Nostalgiker: Der C64 – das heilige Artefakt der Band – wurde feierlich in die Luft gehalten, inklusive Geburtsdatum. War der Brotkasten eigentlich dunkel lackiert oder war’s das Bühnenlicht? Die Meinungen gingen auseinander. Was lief noch? Alles, was das Fanherz braucht: „Der Käfer“, „Schweben und Fliegen“, „Deine Augen“, Popcornregen, Riesenballons und ganz viel gute Laune. Ich habe ehrlich gesagt irgendwann aufgehört mitzuschreiben – ich war zu beschäftigt damit, das Konzert zu genießen. Es fühlte sich nicht wie ein Notbehelf an, sondern wie ein richtig gutes Konzert. Überraschend stark, überraschend rund. Fast so, als würde Slash plötzlich singen. Wer hätte das gedacht?
Finale und Fazit
Ein Konzertabend, der nach Pannen roch, aber doch nach Party schmeckte. Ohne Honey, aber mit so viel Liebe, Witz und Performance, dass man ihn wirklich erst vermisste, als man beim Heimgehen dachte: "War da nicht sonst noch jemand?" LadyLila und M.A.Peel – take a bow! Und bitte künftig öfter ganz vorne, nicht nur, wenn’s brennt. Welle:Erdball in München war nicht das, was ich erwartet habe – es war viel besser. Und falls sich jemand fragt: Wer war nochmal dieser Honey?
Setlist
'Dr Who', 'Kabinett', 'Liebe gegen Leistung', 'Mumien im Autokino', '8-Bit Raumstation', 'Türspion', 'Lady Dracula', 'Liebelei im Diskolicht', 'Poupée de Cire', '1000 Engel', 'Volksempfänger'
[6,8 Minuten Pause]
'Pareidolie', 'Nur mit mir allein', 'VW-Käfer', 'L’Inconnue de la Seine', 'Wendy & Walter', 'Graf Krolock', 'Schweben, fliegen, fallen', 'Deine Augen', 'Ich bin aus Plastik', 'Walkman', 'Space Oddity', 'Liebe 3. Art', 'Drogenexzess im Musikexpress', 'Video Killed the Radio Star'