Seit über einem Vierteljahrhundert begleiten wir hier das Projekt Assemblage 23 schon – und wenn man ehrlich ist, gibt es kaum jemanden, der in der dunklen Elektronikszene so zuverlässig Herz und Hirn in Einklang bringt wie Tom Shear. Der Mann ist ein Ein-Mann-Orchester der Melancholie, ein Meister der Synth-Ordnung im Gefühlschaos. 1988 gegründet, damals noch irgendwo zwischen nerdiger Bedroom-Produktion und unbeirrbarer Vision, hat sich Assemblage 23 längst als feste Größe zwischen Electro-Industrial, EBM und Futurepop etabliert. Während viele Weggefährten über die Jahre vom Pathos in die Parodie kippten oder in der Retro-Nostalgie steckenblieben, blieb Shear immer er selbst – ehrlich, fokussiert, technisch brillant und dabei überraschend menschlich.
Mit ‘Null’, dem mittlerweile zehnten Studioalbum (Release: 7. November 2025 via Metropolis Records / Accession Records), legt er nun das vor, was man nur als eine Art emotionales Lagebild der Gegenwart bezeichnen kann. Schon der Titel ist Programm: Null – das ist der Punkt, an dem alles gleichgültig zu werden droht. Die Welt dreht sich, aber irgendwie fehlt der Schwung. Und doch gelingt es Shear, genau aus dieser Leere etwas Aufrüttelndes zu formen. Musikalisch ist ‘Null’ pure Assemblage-DNA: kristallklare Synths, energische Basslines, saubere Produktion bis in die feinste Spur, aber nie steril. Shear versteht es, Maschinen Gefühle beizubringen – Beats, die anziehen, Melodien, die trösten, Vocals, die ehrlich genug sind, um zu schmerzen. Alles wirkt vertraut, und doch etwas dunkler, kontrollierter, erwachsener als auf den Vorgängern ‘Mourn’ oder ‘Endure’. Es ist, als hätte sich die Euphorie von damals in etwas Tieferes verwandelt – weniger Tanz, mehr Denken.
Thematisch zieht sich ein roter Faden der Entfremdung durch das Album. Shear singt über emotionale Leere, digitale Distanz und den Versuch, Mensch zu bleiben in einer Welt, die immer kälter tickt. Es ist diese stille Verzweiflung zwischen Alltag und Algorithmus, die ‘Null’ so stark macht. Man hört keine Klage, sondern das resignierte Kopfnicken eines Künstlers, der die Dunkelheit kennt, aber sich weigert, darin unterzugehen. Und dann kommen da diese typischen Shear-Momente – ein Akkordwechsel, eine Textzeile, ein bittersüßer Synth-Hook – und plötzlich fühlt man sich verstanden. Klanglich wandelt ‘Null’ zwischen hypnotischen Clubbeats und introspektiven Passagen, die an Iris oder Neuroticfish erinnern, aber stets unverkennbar Assemblage 23 bleiben. Der Sound ist aufgeräumt, modern, aber nicht glattpoliert. Man spürt die Erfahrung eines Musikers, der längst keine Kompromisse mehr eingehen muss. Wenn frühere Werke wie ‘Storm’ noch nach Aufbruch rochen, dann riecht ‘Null’ nach Gewitterluft: geladen, schwer, aber irgendwie reinigend.
Natürlich könnte man sagen, ‘Null’ sei „typisch Assemblage 23“. Aber das ist, als würde man einem guten Whiskey vorwerfen, dass er wieder nach Eiche und Rauch schmeckt. Ja, Shear bleibt sich treu – und das ist genau das, was diese Szene braucht: Verlässlichkeit im besten Sinne. Keine anbiedernde Chart-Anbauten, kein „Look-I’m-doing-Synthwave-too“. Einfach ehrliche, präzise, emotional aufgeladene Elektronik – so, wie sie nur Tom Shear kann. Was ‘Null’ meiner Meinung nach besonders macht, ist die Balance zwischen Wehmut und Würde. Es ist kein verzweifeltes Album, sondern eines, das sich mit seiner Dunkelheit versöhnt hat. Man hört einem Musiker zu, der die Abgründe kennt, aber gelernt hat, sie zu vertonen, statt in ihnen zu ertrinken. Das macht ‘Null’ so eindringlich – es ist kein Aufschrei, sondern ein stilles Nicken. Ein „Ja, so ist es eben – aber ich lebe noch“.
Und wer jetzt denkt, das klinge zu ernst – keine Sorge: Zwischen all der introspektiven Tiefe gibt es auch genug Synth-Schub, um das Tanzbein zu aktivieren. Nur dass man danach vielleicht ein bisschen nachdenklicher auf der Tanzfläche steht. Am Ende bleibt das Gefühl, ein reifes, ehrliches Werk gehört zu haben – eines, das sich nicht anbiedert und trotzdem berührt. ‘Null’ ist das musikalische Äquivalent zu einem Blick in den Spiegel nach einer langen Nacht: ein bisschen müde, aber echt. Für Fans elektronischer Melancholie Pflichtprogramm. Für alle anderen vielleicht der Moment, zu erkennen, dass Maschinen manchmal die menschlichsten Geschichten erzählen.
Assemblage 23 - Null
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