Who Saw Her Die? - Sacramental

Who Saw Her Die? -...

Wenn man Donald Trump zuhört, entsteht mitunter der Eindruck, Amerika befinde sich seit seiner Wiederwahl in einem kollektiven Dauerhoch – wirtschaftlich, moralisch und natürlich auch geistig auf dem Gipfel der Glückseligkeit. Wer aber nicht völlig betäubt vor dem Fernseher sitzt, könnte eher zu dem Schluss kommen, dass hier weniger Optimismus als vielmehr Realitätsverweigerung im Spiel ist. Ausgerechnet aus Louisville, Kentucky – also aus einem Bundesstaat, der bei Wahlen politisch zuverlässig tiefrot einfärbt – kommt mit ’Sacramental’ von Who Saw Her Die? ein Album, das diesem Dauergrinsen musikalisch möglicherweise den Spiegel vorhält. Kein Aufbruch, kein Sieg, kein „Everything Is Fine“ – stattdessen Dunkelheit, Zweifel und eine Atmosphäre, die sich anfühlt wie der nüchterne Blick nach innen, wenn der Lärm draußen endlich verstummt.

’Sacramental’ ist ein klassisches Dark-Wave-/Post-Punk-Album im ursprünglichen Sinn: meist langsames bis mittleres Tempo, kaum Ausbrüche, kein Drang zur Tanzfläche, dafür ein stetiger, unterschwelliger Druck. Die Musik arbeitet mit monotonen, bassgetragenen Pulsierungen, die wie ein gleichmäßiger Herzschlag durch das gesamte Album führen. Das ist keine Musik für Bewegung, sondern für Konzentration – Kopfmusik, nicht Körpermusik. Die Synthesizer fungieren hier nicht als melodische Leuchtreklame, sondern als atmosphärische Träger. Sie legen kalte, leicht neblige Flächen unter die Stücke, ohne je dominant zu werden. Gitarren tauchen sporadisch auf, oft verzerrt oder angekratzt, liefern Textur statt Riff und erinnern eher an Post-Punk-Traditionen als an rockige Strukturen. Alles wirkt bewusst reduziert, fast asketisch – als hätte man jedes Element daraufhin geprüft, ob es wirklich nötig ist.

Genau darin liegt für mich die Stärke dieses Albums. ’Sacramental’ verweigert sich allem was nach Szene-Klischee oder Retro-Fetisch riecht. Es gibt keine hymnischen Refrains, keine offensiven Hooks, keine plakativen Höhepunkte. Stattdessen baut sich Spannung langsam auf und entlädt sich oft gar nicht – sie bleibt stehen, schwebt im Raum, nagt. Wer hier EBM-Druck, Futurepop-Glanz oder Clubtauglichkeit erwartet, wird von Stephen Beasey und Brian Cain bitter enttäuscht sein. Wer jedoch klassischen, introspektiven Dark Wave mit Post-Punk-Haltung sucht, fühlt sich ganz sicher schnell zu Hause.

Die Vocals passen meiner Meinung nach perfekt in dieses Bild: distanziert, kontrolliert, erzählend, nie überdramatisch, aber stets präsent. Sie stehen nicht über der Musik, sondern sind Teil der Gesamtstimmung – fast wie ein innerer Monolog, den man zufällig mithört. Inhaltlich kreisen die Texte um Verlust, Schuld, emotionale Abhängigkeit und innere Leere, ohne diese Themen auszustellen oder zu erklären. Alles bleibt angedeutet, fragmentarisch, offen – genau so, wie man es von gutem Dark Wave erwartet. Fein! Auch die beiden DJ-Mixes am Ende ändern nichts am Grundcharakter des Albums. Sie machen die Stücke nicht tanzbarer oder zugänglicher, sondern verschieben lediglich die Perspektive. Das unterstreicht noch einmal, wie geschlossen dieses Werk gedacht ist: ’Sacramental’ ist kein Song-Sammelsurium, sondern ein durchgängiger Zustand.

Produktionstechnisch bleibt das Album angenehm roh und ungeschönt. Kein Hochglanz, keine moderne Überpolitur, sondern ein Sound, der sich klar dem Underground verpflichtet fühlt. Zeitlos statt trendbewusst, düster statt dekorativ. In einer Szene, in der Dunkelheit oft mit Lautstärke oder Pathos verwechselt wird, wirkt diese Zurückhaltung fast schon trotzig.

’Sacramental’ von ’Who Saw Her Die?’ ist damit ein Album für Hörerinnen und Hörer, die Dark Wave und Post-Punk als Stimmungs- und Seelenzustand begreifen. Wer langsame, introspektive Musik schätzt, die mehr fragt als beantwortet und mehr aushält als tröstet, wird hier fündig. Für Fans von schnellen Beats, klaren Refrains oder eskapistischer Szene-Unterhaltung ist dieses Album dagegen denkbar ungeeignet. Ich persönlich halte ’Sacramental’ für einen wohltuend düsteren Gegenentwurf zu einer Zeit, in der uns permanent erzählt wird, alles werde immer besser und immer goldener. Dieses Album sagt leise, aber bestimmt: Nein – wird es nichr – und genau deshalb klingt es meines Erachtens nach so ehrlich.

Who Saw Her Die? - Sacramental
Eingebettete Inhalte nicht verfügbar
Dieser Inhalt kann nicht angezeigt werden, da du der Verwendung externer Cookies und Inhalte von Drittanbietern nicht zugestimmt hast. Um das Video/Bild/etc. zu sehen, kannst du deine Cookie-Einstellungen hier anpassen. Weitere Informationen zu den verwendeten Diensten und deren Datenschutzpraktiken findest du in unserer Datenschutzerklärung. Vielen Dank für dein Verständnis.

Medienkonverter.de

Wir verwenden Cookies zur Optimierung unserer Webseite. Details und Einstellungen finden Sie in der Datenschutzerklärung und im Privacy Center. Ihre Einwilligung ist jederzeit widerrufbar. Soziale Netzwerke & Drittanbieter-Inhalte können angezeigt werden. Mit „Alle akzeptieren“ stimmen Sie (widerruflich) auch einer Datenverarbeitung außerhalb des EWR zu (Art. 49 (1) (a) DSGVO).