Es zeugt von nüchterner Logik, dass die Weihnachts-Compilation des Back Rain-Labels mit "Black Snow" betitelt wurde. Etwas ungewöhnlich ist dagegen, dass diese überhaupt existiert. Black Rain, Heimat zahlreicher etablierter Electro-/Gothic-Größen, und Weihnachten, Fest der christlichen Werte-Hegemonie und kommerzialisierten Idylle, geprägt durch einen adipösen alten Mann im Plüsch-Kostüm, der den westlichen Kulturkreis mit Rentier-Exkrementen bombardiert...dem Schema der Dialektik folgend musste geradezu aus diesem Gegensatzpaar bzw. Konflikt etwas Neues synthetisiert werden. Eine derartige Kombination kann zwar miserabel ausgehen, ist aber auch nie gänzlich uninteressant. Das Material auf diesem Tonträger setzt sich aus bisher unveröffentlichten Eigenkompositionen und Cover-Versionen von mehr oder weniger bekannten Weihnachts-Hymnen zusammen. Die vertretenen Künstler kommen aus verschiedenen Stilrichtungen und dementsprechend heterogen gestaltet sich auch der Sound der Scheibe. Da wäre z.B. zunächst einmal die Electro-Industrial-Fraktion in Form von Feindflug, DYM oder auch Jabberwock. Feindflug eröffnen mit Rentier-Gallopp und Schlittenglöckchen, und kleine Engelchen schweben am Keyboard und schenken den braven Kindern einen Satz pathetischer Flächen. Das Arrangement ist relativ opulent und orchestral, hauptsächlich die Rhythmussektion zeigt sich für den Industrial-Anteil verantwortlich, bleibt jedoch gemächlich. Hervorragend dann am Ende noch ein eingespieltes "Ho Ho Ho", das die Kleinen in ihrem Glauben an den Weihnachtsmann bestärken wird. Jabberwock tragen das meiner Ansicht nach auffälligste und irritierendste Stück bei, es ist laut, präsentiert schrägen, manischen, teils fast geschrienen Gesang (zumindest im Refrain), sowie club-orientierten Electro-Beat und ordentlich verzerrte Synths und Gitarren. Auch DYM gehört mit "Little Drummer Boy" zu den Wenigen, die ihren Hörwert über die Weihnachtszeit hinaus behalten könnten. Digital malträtierte Samples des Originals werden eingestreut in ein nicht weniger stark bearbeitetes Rhythmus-Gehacktes mit mächtigem Basskick, das teils schon Züge von Breakcore annimmt und hier im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Die bekannte Melodie spendet nur besagtes Sample. Tyske Ludder stampft wummernd in EBM-Manier mit behäbigem 4/4-Beat durch den tiefen Schnee, begleitet von gelegentlichen Synth-Leads, die im Refrain traurigerweise eher an den häufig geschmähten Kirmes-Electro erinnern als an EBM. Sänger Claus Albers röchelt sich originalgetreu mit Behelfsmelodie durch die, zusammengenommen, 6 Minuten Spielzeit der beiden Beiträge, wobei "Fairytale Of New York" nur ein einminütiges Vorspiel darstellt. Die Perlen präsentieren mit ihrem Titel bodenständigen Electroclash mit Punk-Einfluss und machen darauf aufmerksam, dass Weihnachts-Idylle nicht ohne Strom auskommt: "Elektro-Kerzen brennen nicht, ohne Strom kein Weihnachtsmarkt". Etwas mehr Richtung Gothic/Darkwave gehen Atomic Neon und Konsorten mit Streicher-Arrangement und melancholischen, klaren Vocals, dazu gesellen sich noch Glockenspiel-Sounds und angenehmer Beat. Oil 10 folgen darauf mit flottem, seichtem Retro-Electro und Kraftwerk-Robostimme, Panic Lift liefern eingängigen Dark Electro, killedbycandy (frisches Nebenprojekt vom Pussybats-Sänger) langweiligen Rock wie man ihn von manchen Studentenrock-Bands der letzten Jahre her kennt, und Novalis Deux wahrscheinlich den ereigniskonformsten Beitrag im traditionellen Sinn: Es gibt Klavier, Geige und weiche weibliche Stimme (die Melodie dieses englischen Liedes düfte auch den meisten bekannt sein), und der "Beat", sofern man es hier so nennen kann, ist nahezu auf die Funktion eines Metrums beschränkt. Fazit: Eine stilistisch vielfältige Compilation, deren Qualität sich allerdings ebenso vielfältig darstellt, so funktioniert der Beitrag von Hioctan nur als Gag, wirkt ironisch bzw. unfreiwillig komisch und bewegt sich bei mir hart an der Grenze zur Antipathie. Damit ist die Nummer noch kurzlebiger als Dandelion Wine's "I Want A Hippopotamus For Christmans", das in dieselbe Kerbe schlägt und fast nur als humoristischer Beitrag Bestand hat. Damit werden wahrscheinlich nicht alle Lieder die nächsten 2 Monate überleben und einige schliesslich im Keller verschwinden. Doch gibt es auch Ausnahmen, die für sich genommen überzeugen können und auch ohne Weihnachtsbezug einen gewissen Unterhaltungswert aufrechterhalten, dazu zählen z.B. DYM, Feindflug, Jabberwock, oder auch Atomic Neon (et. al.). Zumindest wird man mit "Black Snow" ein kleines Kuriosum sein Eigen nennen können, und letztendlich ist es allemal besser als der übliche Ton-Terrorismus in Form von Kinderchor-Gesängen.