“Ein Cantadoro ist jemand, der sein eigenes Herz zerrissen, blutend in der Hand hält und über diesen Schmerz hinaus weiterlebt, um ihn singend lebbar zu machen. Er singt für die Liebe und verkörpert sie zugleich.“ So erläutert Tilo Wolff die Sangeskunst des Cantadoro. Eine Beschreibung, die auf den ersten Blick auf sein Hauptprojekt Lacrimosa zutreffen könnte. Warum also wählt er dieses Leitbild gerade für das neue Album seines elektronischen Seitenprojekts Snakeskin und nimmt sogar im Titel ???Canta’tronic“ darauf Bezug? Eine berechtigte Frage, denn das Debut „Music for the lost“ hatte mit seinen verstörenden Klangcollagen und den bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Vocals so gar nichts gemein mit den oben genannten Cantadoros, die sich in der Tradition des sagenhaften Orpheus oder der keltischen Barden und portugiesischen Fadosänger sehen. Und doch gibt es eine Verbindung. Auch die Musik Snakeskins war von Anfang an von kompromißloser Leidenschaft geprägt, die polarisierte und als Folge zahlreiche positive wie negative Reaktionen hervorrief. Polarität – Licht und Schatten. Dieses Prinzip kann nun als Weiterentwicklung des vielfach als irritierend empfundenen Vorgängers verstanden werden, direkt vergleichbar an der Nr. 10 beider Alben. Während „Recall“ mit seinen Disharmonien und dem verfremdeten Gesang bewußt abstoßend wirkte, wird jetzt in „Recall II“ das Ohr durch den klaren Sopran Kerstin Doelle’s“ geradezu umgarnt. Kerstin Doelle, die normalerweise mit klassischen Rollen in Opernhäusern glänzt und 2004 Deutschland in den Konzerten zur EU-Erweiterung vertrat, setzt in Tracks wie dem Opener „Etterna“, dem nur sparsam unterlegten „La Force“ oder den melancholischen „Manora“ einen strahlenden Lichtpunkt. Dem entgegen stehen „Stonecoldhands“ mit seiner düsteren Atmosphäre, das von harten Beats geprägte „Mortal Live“ oder das durch seinen Bombast und die Rauheit des Gesangs bedrohlich wirkende „The Eternal“. Sie markieren die Dunkelheit, die das Licht zu verdrängen sucht, auf die Spitze getrieben durch das einzige Duett beider Vocalisten in „Bite me“. Hier reibt sich klassischer Belcanto an kalter Elektronik, während Tilo dazu seine wuterfüllte Stimme in den Raum schleudert. Aufgestaute Wut, das war es auch, was ich bei „Music for the lost“ verspürte, ja, ich hatte den Eindruck, daß sich hier eine destruktive Kraft Bahn brechen mußte, nachdem die Musik von Lacrimosa immer durchkomponierter wurde. Vielleicht war die Veröffentlichung jenes Longplayers letztendlich der Anstoß dazu, das aktuelle Lacrimosa-Album „Lichtgestalt“ wieder erdiger und schnörkelloser werden zu lassen. Im Gegenzug klingt nun „Canta’tronic“ wesentlich melodiöser und strukturierter, aber keineswegs bequemer. Snakeskin ist und bleibt schwer verdaulich und sicherlich werden sich an seinem neuen Werk abermals die Geister scheiden.