Auf radikale künstlerische Weise hat Jérôme Reuter im vergangenen Jahr versucht, den Konflikt zwischen Russland un der Ukraine zu verhandeln. "Gates Of Europe" ist ein nachwievor streitbares, weil bisweilen polemisches, aber auch unglaublich eindringliches und vielleicht authentischstes Werk, das sich mit diesem schwierigen Thema auseinanderzusetzen versucht.
Seitdem hat sich die Welt nicht zum Besten geändert. Das Gegenteil ist eher der Fall: Mittlerweile drohen Gefechte im Nahen Osten, das Gebiet weiterhin zu destabilisieren. Amerika könnte bei einer Wiederwahl Trumps sich vollständig aus der Verteidigungspolitik Europas rausziehen. Wie kurz überall die Zündschnur mitterrweile ist, konnte man jüngst bei den Ausschreitungen in England sehen, als Rechtsradikale sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, weil Tage zuvor in einer britischen Kleinstadt ein Mann ein Attentat verübt und dabei zwei Kinder getötet haben soll. Im Netz kursiert das (unbegründete) Gerücht, dass es sich beim Täter um einen Migranten handele. Diese Falschmeldung reichte aus, um bürgerkriegsähnliche Tumulte zu entfesseln.
Zwar ist der Ausspruch einer in Flammen stehenden Welt mittlerweile sehr abgenudelt. Doch wenn Rome sich diesen Titel aussucht, kann man sicher sein, dass er dem Allerweltssatz erneut Tiefe verleihen wird. Schon das Artwork mit dem Titan Atlas, der eine in Rauchschwaden gehüllte Erdkugel schultert, ist pathetisch und gleichzeitig programmatisch für das Mini-Album des Luxemburgers, der einmal mehr ein düsteres Bild unserer Welt zeichnet, in der "einzig und allein durch brutalsten Kampf" ("Eagles Of The Trident") der "Gewalt des Guten" ("How Came Beauty Against This Blackness", beide Songs von "Gates Of Europe") sich eine Besserung einstelle könnte.
Doch zunächst bleibt Rome auf "World In Flames" einer getrübten Weltsicht treu, die sich bereits in den schweren Streicherklängen der Ouvertüre "Vol De Nuit" ankündigt. Wie ein sich durch schwarze Wolken verdunkelndes Firmament wirken die bedächtigen Geigen. Das nahtlos nachfolgende "First We Take Berlin" klingt mit seinen stoischen Beats und metallischen Schlägen wie das dräuende Gewitter am Horizont. Jérôme singt in ruhigem und doch beschwörerischem Tonfall den Versuch von eingen Querdenkern, Reichsbürgern und Rechtsradikalen, während einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen anno 2020, in den Reichstag einzudringen. Welche Ausmaße diese Aktion hätte haben können, konnte man gut einige Monate später in Amerika beobachten, als ein wütender Mob am 6. Januar 2021 das Kapitol stürmte, um die Vereidigung Joe Bidens als neuen Präsidenten zu verhindern.
Rome richtet sich mit seinen Songs an die Menschen, die unter repressiven Systemen leiden und versucht, ihnen Mut zu machen, auch wenn die Lieder in ihren Arrangements wenig Grund zur Freude geben. "Submission" zeigt Reuter einmal mehr als großen Verfechter der individuellen Freiheit und wirkt in seinen Fragen bisweilen auch anklagend: "Who will give voice to silent nation?" Es ist eine Ermahnung an den Hörer, an jeden einzelnen von uns, sich immer wieder zu vergewissern, dass Freiheit ein über die Jahrhunderte erkämpftes Gut ist, das weiterhin verteidigt werden muss - auch für andere.
Dass er in "Eagle Wings" einmal mehr den Ukraine-Krieg aufgreift, ist dabei keine Überraschung, hat das Thema auch einem Jahr nach "Gates Of Europe" nichts von seiner erschütternden Aktualität verloren. Die melodischen Schmeicheleien, welche Jérôme seiner Akustikgitarre entlockt, zeigen aber auch die andere gedankliche Seite des Neo-Folk-Projekts. Schließlich ist Aufgeben keine Option für den Sänger. Diese Prämisse spinnt er bei "Todos Es Nada" weiter, indem er sich einmal mehr in seinen leidenschaftlichen Appellen gegen die Tyrannei auflehnt. Der Titelsong schließt das Mini-Album im Rückgriff auf den Opener mit ruhigen, atmosphärischen Streichern in die sich ein gespenstischer Chor wie durch einen Nebelschleier zu erkennen gibt. Eine Toncollage für eine Welt, die in ihren Grundfesten erschüttert ist und eine ungewisse Zukunft bereithält.
Das Mini-Album ist nicht als "Nachschlag" zu "Gates of Europe" zu bewerten, sondern eher als Fortführung der Gedanken aus dem Vorgänger. Es geht nicht mehr nur um den russischen Aggressor, sondern um die grundsätzliche Frage, wie man die Welt von Tyrannei befreien kann. An der Haltung Reuters hat sich allerdings nichts geändert: Freiheit muss - notfalls auch militärisch - verteidigt werden. Damit bleibt er weiter streitbar, aber eben auch profiliert. Musikalisch steht Rome sowieso erhaben über jeden Zweifel.