Relatives Menschsein - Gefallene Engel

Relatives Menschsein - Gefallene Engel

Es war irgendwann im Herbst 1992, als ich mit meinem Grufti-Kumpel in der U-Bahn in München saß und wir, wie es sich gehörte, in aller Heimlichkeit unsere Kassettensammlung austauschten. Keiner sollte merken, was da abging, denn wenn die anderen Mitfahrer wüssten, was gleich aus meinen Kopfhörern schallen würde, hätten sie mich sicher für verrückt erklärt. „Ey, hast du das neue Ding von Relatives Menschsein gehört?“ flüsterte er verschwörerisch, während er mir die Kassette in die Hand drückte, als wäre sie ein geheimer Agentenbericht. Natürlich hatte ich keine Ahnung, was mich erwartete – aber das sollte sich schnell ändern.

Kaum drückte ich auf Play, war das Erste, was mir durch den Kopf schoss: "Kranker Scheiß!" Diese Stimme, als würde jemand direkt aus der Gruft singen, begleitet von düsteren Synthesizern, die irgendwo aus den Untiefen eines post-apokalyptischen Tanzbodens zu kommen schienen. Und diese Beats – schwer, hypnotisch, irgendwie krank, aber doch ... geil!? Ich sah mich erstmal nervös um, ob nicht jemand mithörte. Keine Ahnung, ob die anderen Passagiere wussten, was sich da gerade in meinen Ohren abspielte, aber sie hätten mich definitiv für irre gehalten. Zuhause angekommen, dachte ich mir: "Okay, das muss ich mal der Freundin vorspielen." Sie war voll auf diesem Dead Can Dance-Trip, also dachte ich, vielleicht hat sie ja ein Faible für düstere Klänge. Doch Fehlanzeige. Sie hörte genau zehn Sekunden rein, bevor sie hochnäsig die Nase rümpfte und mir mitteilte, dass sie bei ihrem mystischen Dead Can Dance-Kram bleiben würde. Nun gut, Geschmäcker sind eben verschieden.

Ich bin heute noch platt von den Songs. Ganz ehrlich, wie zur Hölle kommt man auf solche Texte? Lizzy? Nehmen wir mal den Track "Glaube". Da singt Wolfgang A. Mödl mit dieser markant-hellen panischen Stimme etwas wie: "Bleiche Wurzeln – zerkaut der Eremit / Vom Bilsenkraut bewachsenes Zenotaph". Ich meine, was? Ein Zenotaph, also ein Kenotaph – ein Grabmal für jemanden, der woanders bestattet ist – und dann auch noch überwuchert von Bilsenkraut? Klar, warum nicht, klingt total logisch... wenn man in einer Edgar Allan Poe-Geschichte lebt! Man kann nur spekulieren, was sie sich dabei gedacht haben, aber irgendwie, in Verbindung mit den düsteren Synthesizern und den tiefen, dröhnenden Beats, ergab das für mich - nach ein paar Getränken - irgendwie alles plötzlich einen Sinn. Es ist echt so abgefahren, dass man gar nicht anders kann, als es immer und immer wieder zu hören.

Und dann ist da noch der ruhige, fast schon meditativ-düstere Track "Androiden". Auf den ersten Blick könnte man meinen, der Song sei eine kleine Pause für die geschundenen Gothic-Nerven. Aber dann setzt Wolfgang wieder mit seinen Texten ein: "Ein Fluch, die Kunst des Lebens / Androiden, der Freitod, keine Lösung / Es lebe der Tod – feiert ihn auf ewig!" Also ehrlich, wer bitte kommt auf solche Gedanken? Das ist doch keine normale Gedankenkette, oder doch? „Der Freitod, keine Lösung“ – das klingt schon fast wie eine zynische Lebensweisheit für alle, die in den 90ern auf der Suche nach Sinn und Bedeutung waren. Und dann „Es lebe der Tod“ – ja, warum eigentlich nicht? Die morbide Poesie, verbunden mit diesen schwebenden Synthies und den fast hypnotischen Rhythmen, lässt einen wirklich nicht mehr los.

Egal wie verdreht oder surreal die Texte auch waren – sie passten wohl perfekt zur damaligen musikalischen Vision der Band. Was Wolfgang A. Mödl, Jörg Hüttner, Jörg Wolfgram, Andy Age und Lissy Mödl hier geschaffen haben, ist etwas, das nur wenige Bands damals hinbekamen: Es blieb hängen. Die Synthesizer, diese Atmosphäre, die Stimme – das alles verschmolz zu einem einzigartigen, düsteren Gesamtkunstwerk. Man musste es einfach immer und immer wieder hören. Und ganz ehrlich, selbst wenn man nicht verstand, was sie mit „Bilsenkraut“ oder „Zenotaph“ meinten, es fühlte sich richtig an. Relatives Menschsein hatten die perfekte Formel gefunden, um eine düstere, fast surreale Welt zu schaffen, die irgendwo zwischen Kunst, Wahnsinn und apokalyptischem Albtraum existierte. Und genau das war es, was die Musik so unvergesslich machte. Einmal gehört, ließ sie einen nicht mehr los – egal, ob in der U-Bahn, zuhause oder in den dunklen Ecken des eigenen Kopfes.

Und jetzt kommt der eigentliche Knaller: Erst viel später habe ich erfahren, dass die Band aus Kaufbeuren stammt und wohl regelmäßig im Melodrom rumgehangen haben muss – einem Laden, in dem ich selbst unzählige Male abgedampft bin. Wie ist das bloß an mir vorbeigegangen? Vielleicht lag es daran, dass ich damals eher bei Rudy Ratzinger und dem Judas abhing, während Rudy seine CDs stilecht aus dem Kofferraum seines 3er BMWs verkaufte. Ja, das waren noch Zeiten, als du deine Musik direkt vom Erzeuger in die Hand gedrückt bekamst – keine Streaming-Algorithmen, nur Rudy, sein Auto und die dunkelsten Klänge aus der Industrie-Hölle.

Aber wie dem auch sei, das ist mir damals irgendwie entgangen. Vielleicht, weil ich zu sehr auf feinste Elektrobretter aus Rudys 3er abfuhr und den melancholischen Sound von Relatives Menschsein unterschätzte. Egal – besser spät als nie. Und heute bin ich froh, dass ich damals in der U-Bahn auf Relatives Menschsein gestoßen bin, auch wenn ich dafür fast schräg angeschaut wurde.

Und was wurde aus ihnen? Nun, das bleibt wohl ein bisschen im Dunkeln. Offiziell hat sich die Band nie aufgelöst, das erfährt man zumindest, wenn man sich auf ihrer Homepage umschaut. Ja, genau, http://www.relatives-menschsein.de/ – die Seite gehört laut Impressum zu Lissy Mödl, und ganz ehrlich, die Homepage sieht aus, als wäre sie seit den 90ern in einem Cyber-Koma gefangen. Auf der Startseite steht zwar optimistisch „Hier kommt bald mehr Inhalt“, aber so richtig passiert da auch nichts. Der letzte Auftritt war wohl 1999, als Wolfi, der Sänger, seine Bühnenkleidung verschenkte. Und damit war’s dann wohl vorbei. Ob da irgendwann noch mal was kommt? Keine Ahnung. Aber eins steht fest: Diese Engel sind zwar gefallen, aber in den Herzen vieler Gothic-Fans von damals leben sie weiter. Auch wenn ihre Homepage aussieht, als wäre sie direkt aus einem alten Netscape-Browser gerissen worden.

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