Hallo Leser! Wie viele Alben fallen dir auf Anhieb ein, bei denen die Texte folgende Kernaussage haben: "Ich habe es erkannt und werde deswegen das böse Opium für das Volk nicht mehr annehmen, das uns DIE da oben geben"? Na, dir fallen nicht genügend ein? Dann empfehle ich das vierte Album des Hamburger Duos Oberer Totpunkt, das trotz unter anderem dieser Schwäche kein ganzheitlicher Rohrkrepierer ist. Die Zutaten für das Kritik-Menü sind heute: am EBM angelehnte monotone aber zum Teil schicke Elektronik, seltene aber schön stumpfe E-Gitarren Riffs, unauffälliges Drumming (für alles zeichnet sich ein Michael Krüger verantwortlich) und im Zentrum Bettina Bormanns gesprochene Texte, die weltkritisch-zynisch zum Nachdenken animieren wollen.

"Es war immer so" macht alles richtig - man bleibt textlich beim eigenen Erleben der Alltagsmonotonie. Hier zeigt Bormann alle Stärken der auf dem Album präsentierten Stimmaspekte: sie wirkt maschinell, kalt und doch nicht unschön, weiche Zwischentöne berechtigen zu dieser Fokussierung auf die Stimme. Die beiden folgenden Stücke sind in meinen Ohren aufgrund der oben angesprochenen Textausrichtung fad. Was will man mir mit "Das ist nicht meine Welt" sagen? Und warum verwendet man hierfür Motive wie das komplett ausgelutschte "Brot und Spiele", die die Massen stumm halten? Mit etwas mehr Eigenständigkeit und Tiefe könnte die musikalische Kälte wirken und die Lieder könnten zünden. Dann kommt noch musikalische Nerverei hinzu - "Geisterfahrt". Es geht wieder aufwärts: "Das Leben wartet nicht auf dich" ist musikalisch in seiner Monotonie angenehm und die schöne Erzählstimme kann mich den nicht soooo berauschenden Text vergessen lassen. "Spiegel im Käfig" reißt mich hin und her: auf der Habenseite die Melodie und die Kernaussage „Ich häng mir einen Spiegel ins Zimmer wie ein Wellensittich, dann bin ich nicht mehr allein“ – der Rest des Textes ist mir dann aber wieder zu baukastenartige Neue Deutsche Todeskunst.

Mehr Höhepunkt ist "Alle lügen": es erfüllt in meinen Ohren textlich alles, was die ambitionierte Präsentation erwarten ließ. Toll! „Nur ein Traum“ ist ok, „Fremde Seele“ ist eine sehr gelungene Ausnahme des Albums mit deutlichem Fokus auf Melodie und Tanzbarkeit. Es folgen schließlich 2 Nummern, die nicht weiter erwähnt werden müssen und schon ist ‚Desiderat‘ am Ende. Ein ‚Desiderat‘ ist ein Objekt, das fehlt und benötigt wird oder zumindest erwünscht ist. Fans von Oberer Totpunkt werden das wohl so unterschreiben. Doch die Scheibe wendet sich an eine eher kleine Zielgruppe, verstört sie doch EBM Freunde mit ihrer Anspruchshaltung und Fans der Todeskunst mit zu wenig lyrischem Gehalt und einer deutlichen Monotonie.

Dennoch will ich zu einer Lauschprobe raten: „Es war immer so“, „Alle lügen“ und „Fremde Seele“ sind schon handfeste Nummern und es ist schön, wenn Musikprojekte etwas mehr Mut zum Anderssein haben. Nur bitte keine x-te Wiederholung der immer gleichen Themen der Rubrik „Das soll jetzt anspruchsvoll werden“.