Kreativität bedeutet auch, sich die stilistische Freiheit nach Belieben zu nehmen und nicht in vorauseilendem Gehorsam einer von außen aufgestülpten Erwartung zu entsprechen. Kirlian Camera kann davon mehrere Lieder singen. In ihrer wechselvollen Geschichte, die seit mehr als 40 Jahren kontinuierlich voranschreitet, musste Mastermind Angelo Bergamini schon einige Hürden meistern. Gleich zu Beginn schaffte das avantgardistische Electro-Projekt, einen vielversprechenden Deal mit der italienischen Außenstelle von Virgin Music an Land zu ziehen. Doch diese Verpflichtung steigerte auch den Druck auf die Band, die nun abliefern sollte. Aber nach zwei Singles, "Ocean" und "Heldenplatz",  wurde die Zusammenarbeit bereits wieder beendet.

Von Beginn an war klar, dass Kirlian Camera das künstlerische Sprachrohr Bergaminis sein sollte. Und dieser schert sich seit jeher nicht um Genres und deren klaren Abgrenzungen. Das macht es für gewinnorientierte Plattenfirmen schwierig, da sie in der musikalischen Ausgestaltung gerne ein Wörtchen mitreden wollen. Damals, in den späten 1980ern, konnten Kirlian Camera mit "Eclipse" einen weltweiten Szene-Hit feiern - die Single erschien, nachdem sie Virgin verlassen haben. Der Song ist jedoch nur ein winzig kleiner Ausschnitt aus der musikalischen Fülle des Projektes.

Wie vielschichtig Kirlian Cameras Lieder sind, haben sie bereits in der Vergangenheit mehrmals unter Beweis gestellt. "Radio Signals For The Dying" führt diese Tradition nun weiter fort. Es scheint sich jedoch eine gewisse Routine einzuschleichen. Ein Song wie "Götter geht weg" setzt sakrale Momente mit üppigem Synthie-Pop zusammen. Der auf Deutsch eingesungene Refrain bleibt trotz oder wegen seines überdeutlichen Akzent im Ohr hängen. Es ist  aber auch die majestätische Akkordfolge, die sich sofort in das Gedächtnis eingräbt. Hier, wie auch bei "The Great Unknown" und "CRUD - Corpes Recovery Unit D" zeigt sich das italienische Projekt einem bombastischen Electro verpflichtet, der auch aus der Feder eines Ronan Harris (VNV Nation) hätte entstammen können. Innovativ ist das nicht mehr, musikalisch aber immer noch über jeden Zweifel erhaben.

Spannender klingt dagegen "Madre Nera", weil das Lied sich extrem viel zutraut. In manchen Momenten driftet die Nummer sogar in einen Italo-Schlagerab, der nah am Kitsch operiert. Allein die kleinen Störfeuer im Arrangement verhindern, dass dieses Stück - bei aller großartigen gesanglichen Leistung von Sängerin Alie Elena Fossi - nicht in schmalzige Pop-Oper-Manierismen zu ersaufen droht.

Von der extremen Eingängigkeit schafft "Radio Signals For The Dying" auch den kompletten Umschwung hin zu einer experimentelleren Klanglandschaft, die sich vor allem auf der zweiten CD dieses Doppelalbums Bahn bricht. "We Have To Amputate" verharrt fast bis zur Hälfte der Komposition in einen schwebeartigen Zustand, ausgelöst durch verhackstückelte Stimmensamples und umherflirrende Synthesizer, ehe ein vertrackt-donnerndes Schlagwerk gegen Alices festes Organ anzukämpfen versucht. Das das Album abschließende "Homicide Aristocracy" wühlt schließlich im Dark Ambient, bei dem sich die klassischen Songstrukturen bereits aufgelöst haben und Drones, chorale Gesänge und bedrohliche Soundscapes eine klaustrophobische Atmosphäre provozieren.

Abgerundet wird "Radio Signals For The Dying" durch eine ansprechende Coverversion von "Wrong", Depeche Modes vielleicht letzten wirklich guten Single von 2009. Kirlian Camera hat die electroclashige Nummer in eine Ballade verwandelt, die sich im Mittelteil dezent tanzbar gibt und mit einem überraschenden Ende aufwartet, bei dem man zunächst das Gefühl hat, das Lied gleitet ohne Unterbrechung in ein anderes über.

In Summe liegt hier wieder ein typisches Werk von Kirlian Camera vor - erwartbar in seiner Unerwartbarkeit. Dass sich an manchen Stellen des Longplayers ein Gewöhnungseffekt eingeschlichen hat, ist ehrlicherweise Kritteln auf hohem Niveau. Kaum eine andere Band versteht es nämlich, seine naturgegebene künstlerische Freiheit in aller Form auszunutzen.