Dass Angelo Bergamini seit über 25 Jahren ein elektrisierter Vollblutmusiker ist und Genres wie Cold Wave, Italo-Pop, Techno oder auch Neofolk von Parma aus mit seinen verschiedensten Projekten nachhaltig beeinflusst hat, ist unbestritten. Streitbare Geister haben jedoch immer wieder Anstoß an ihren Interpretationen seiner Werke, seiner Stilistik und der vermeintlichen Tendenzen von Kirlian Camera genommen. Bereits vor 15 Jahren wurde dieses Hauptprojekt Bergaminis mit dem Vorwurf des offen verherrlichten Faschismus und Antisemitismus diffamiert.
Zweifellos hat er emotionale, soziale und menschliche Kälte häufig an fiktiven und realen Beispielen in seinen Songs thematisiert, die stets am Rande der Gesellschaft standen – sei es nun links oder rechts. Ebenso zweifellos ist aber, dass kaum ein anderer so viele Reminiszenzen an jüdische Künstler in seinem Werk verarbeitet hat, wie etwa im neuen Album, das dem Expressionisten Alfred Mombert gewidmet ist. Dessen Geburtsjahr wurde zwar im aufwendig gestalteten Booklet der limitierten Edition um ein Jahrhundert zurückdatiert – das bleibt jedoch nahezu der einzige Schönheitsfehler.
Was man Bergamini heute noch vorwerfen kann, sind höchstens Perfektionismus, Experimentierfreude und eines der besten Releases seit Langem. Es ist nicht das oft angekündigte große Orchesterwerk geworden. Vielmehr konzentriert sich Coroner’s Sun auf die Verdichtung und Verfeinerung des Soundkonzepts, das Kirlian Camera seit Still Air, Invisible Front, 2005 und dem Eintritt von Elena Fossi verfolgt.
Wer diesen Sound mit den gängigen Electro-Metaphern beschreiben will, kommt zwangsläufig ins Straucheln: Eine Melange aus Wave, 80er-Synthie-Pop und mystischem Gesang mit kontrapunktischen Variationen trifft auf experimentelle Arrangements aus Lounge und Techno. Wer sich einmal darauf einlässt, wird schwer wieder loskommen. Jede neue Runde im Player offenbart andere Sichtweisen und Feinheiten, zeigt die hemmungslose Vielseitigkeit des Albums auf. Vergleiche mit anderen Bands erübrigen sich.
Der Opener Panic Area illustriert musikalisch einen Lebensraum, gefangen in Schaltstellen, totaler Vernetzung, Frequenzen und Elektrosmog – Technologien, die laut dem mathematischen Genie Theodore J. Kaczynski aus Harvard die Autonomie des Individuums zerstören und es von einem unüberschaubaren System abhängig machen. Diese expressionistisch-phobische These untermauerte Kaczynski mit der Beendigung seiner Forschungstätigkeit, seinem Rückzug in ein primitives Leben als Einsiedler in Montana und 16 Briefbomben, die er seit 1978 an Universitäten und Fluggesellschaften verschickte. Diese "Untermauerungen" seines Alleinkriegs gegen Staat, Technik und Kommerz brachten ihm den zweifelhaften Ruhm als meistgesuchter Terrorist der USA sowie den Spitznamen „Unabomber“.
Der Titeltrack Coroner’s Sun ist somit keine Ode an CSI: Miami geworden, sondern knüpft nahtlos an frühere Erfolge der Italiener an. Bereits vor zwei Jahren stellte die Festival-EP Praha die Frage nach dem Tod der Seele vor dem körperlichen Ende. In der jetzigen Version wird der Track zum absoluten Muss für jeden DJ. Das elegische Beauty As A Sin lebt, wie die meisten Tracks, von der Stimmgewalt Elenas, thematisch greift es jedoch einen Schritt zurück zum Vorgängeralbum Invisible Front, 2005. Das mit harten Gitarrenriffs unterlegte Illegal Apology of Crime spiegelt einen konsequenten Aufruf zum Umsturz wider und entwickelt sich garantiert zum Clubsmasher.
So abstrus uns Kaczynskis Thesen auch vorkommen mögen, sie fanden Anklang bei Ökos, Alt-Hippies und machten ihn zum Sprachrohr der „konservativen Revolution“. Kaczynski Code und Citizen Una hingegen sind geprägt von kalten, technoiden Soundscapes und ähneln wohl am ehesten dem letzten Output von VNV Nation. Textlich verarbeiten diese Tracks die zukunftsbezogenen Paragraphen des Manifests, die davon handeln, dass der Mensch, wenn er sich nicht durch künstliche Manipulation an die neue Umwelt anpasst, durch einen langen, schmerzhaften Prozess der natürlichen Auslese dazu gezwungen wird.
Das noisige CIA Haunted Headquarters schildert den Prozess der Enttarnung, auch wenn es historisch korrekter das FBI und Kaczynskis jüngerer Bruder waren, die ihn zur Strecke brachten. Nur als Student war Kaczynski Teilnehmer eines psychologischen Experiments der CIA, bei dem unter Einsatz von LSD systematisch Persönlichkeiten gebrochen wurden, um zu untersuchen, ab wann potenzielle Spione ihre wahre Identität preisgeben.
No One Remained beschäftigt sich mit dem Rückzug in das natürliche Exil und spiegelt am ehesten den Neofolk-Hintergrund der Band wider. Das experimentelle, analoge Koma-Menschen enthält mit bizarren Passagen allerdings nicht das erwartete technisch inszenierte Leben von Menschen mit irreversiblem Hirnversagen, sondern basiert auf einem Text des bereits erwähnten Opfers der Bücherverbrennung und Naziverfolgung Alfred Mombert. Schade nur, dass dieser Text nicht im Booklet abgedruckt wurde und die deutschen Passagen mit Elenas unglaublichem Timbre nicht als solche verständlich sind.
The Day of Flowers greift mit Pop-Appeal und Lyrics ebenfalls auf das Vorgängeralbum zurück und rundet die musikalische Bandbreite der CD vollends ab. CD 2 der limitierten Auflage beinhaltet außerdem Titel des Vorgängeralbums als Remix. Dead Zone in the Sky wurde von den Argentiniern Punto Omega sanft aus seinem 80er-Gewand befreit, und Wumpscut machte aus dem sphärischen Track K-Pax einen düsteren Krieg der Sterne – was das Ganze aber nicht zwingend besser gestaltet. Die persönliche Abrechnung Days to Come, in den Remixes von Sensory Gate, hat im ersten viel von Enigma und im zweiten einen Touch Ambient. Hinter diesem Projekt stehen Andrea Pozzi und Francesco Corsini.
Hipnosis wiederum ist ein Nebenprojekt von Paul Sears und Bergamini selbst. Die letzten beiden Bonustracks fallen im Vergleich zum Rest etwas ab, gehören jedoch aufgrund ihres experimentellen Charakters dennoch in dieses einzigartige Werk.
Am Ende bleibt das Wissen, dass der Medienriese Time Warner dem Terroristen den Zugang zum modernsten aller Medien verschaffte, ohne dazu genötigt worden zu sein: Der Konzern veröffentlichte den gesamten Text des Manifests im Internet. Eine größere Verbreitung seiner Gedanken hätte sich der Unabomber wohl kaum erträumen können – ebenso wenig wie diese CD mit Suchtgefahr!