Ralf Hütter und der mittlerweile verstorbene Florian Schneider-Esleben haben zwar Kraftwerk ins Leben gerufen, aber erst durch Karl Bartos und Wolfgang Flür wurde die anfänglich im Kraut-Rock verwurzelte Band zu einer zukunftsweisenden Gruppe, die nicht nur Synthie-Pop vorwegnahm, sondern auch Techno und HipHop beeinflusste. Während Flür die Elektronikschlagzeuge entwarf, konnte Bartos seine musikalische Ausbildung nutzen, um der Band klare kompositorische Impulse zu geben. Er ist beispielsweise als Co-Autor von Kraftwerks größtem Hit "Das Model" aufgelistet und steuerte einmalig beim Stück "Der Telefonanruf" auch den Gesang bei.

Trotz des großen stilistischen Einflusses waren Bartos und Flür nur in einem Angestelltenverhältnis bei Kraftwerk. Dass diese Konstellation auf kurz oder lang zu künstlerischen Diskrepanzen führen würde, war fast schon absehbar. Schließlich verließen beide Musiker die Gruppe, Flür bereits 1986, Bartos 1991. Danach gingen sie den fast schon vorhergesehenen Weg und veröffentlichten Solo-Alben - allesamt natürlich hauptsächlich von elektronischer Musik geprägt.

Aber bei Karl Bartos war da immer noch mehr als technokratische Klänge. Schließlich ist er als Absolvent der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf in Kontakt mit der Klassik gekommen. Sein Klavier-, Vibraphon- und Schlagzeugstudium brachte ihm einige handwerkliche Vorteile gegenüber oftmals ungelernten Pop-Musikern. Es hat aber ein ganzes Leben Zeit gebraucht, bis sich diese Virtuoistät endlich unverstellt präsentieren kann.

Nun erleben wir einen ganz neuen Karl Bartos. Er hat sich sein Mensch-Maschinen-Kostüm abgestreift und zeigt sich nachgerade menschlich und kultiviert. Auf "The Cabinet Of Dr. Caligari" ist der Mann mit Baskenmütze und schwarzem Hemd zu sehen, wie er gerade an einer Partitur sitzt und komponiert. Er wirkt konzentriert und gleichzeitig voller Vorfreude, denn was er sich erdacht hat, ist nichts weniger als neue Musik für einen über 100 Jahre alten Filmklassiker: "Das Cabinet des Dr. Caligari" von Regisseur Robert Wiene.

Jener Streifen, der nicht nur als Meisterwerk des expressionistischen Stummfilms gilt, sondern auch das Genre Horror manifestierte und definierte. Bartos Liebe zu Wienes Streifen, der auf vielen Ebenen gedeutet werden kann, darf man durchaus als obsessiv bezeichnen. Der Mann hat sich seit ungefähr 20 Jahren intensiv mit dem Filmmaterial beschäftigt und schon lange schwebte ihm eine Neuvertonung vor.

Dabei steht der Mann aus Marktschellenberg im Berchtesgadener Land vor einem spannenden Sachverhalt: Die Original-Partitur von Guiseppe Becce ist verschollen; es gab im Laufe der Jahrzehnte ganz unterschiedliche Begleitmusiken. Der Ex-Kraftwerker ist der nächste, der den Versuch startet, dem "Cabinet des Dr. Caligari" ein neues tönernes Gewand zu verpassen. Dafür orientiert sich der Musiker am Rhythmus der Bilder selbst, die er teilweise mit klassischen Streichern untermalt, aber auch - und da scheint seine kraftwerk'sche und ohnehin elektronische Vergangenheit durch - mit Synthesizermodulationen und - was einige als gewagten Tabubruch der Stummfilm-Vertonung bewerten - Geräuschoverdubs.

Wer den Film kennt, weiß um die extremen Stimmungswechsel darin, und Bartos gedenkt sie in den Kompositionen ein. Leicht schaurige Jahrmarktklänge im Dreivierteltakt werden von dezent sphärischen Soundscapes abgelöst und fließen schließlich in klassisch angehauchte Momente ein. Anstatt die Musik als Kontrapunkt zum Film zu setzen, provoziert der 71-jährige eine Tiefenwirkung der teilweise surrealen Geschichte durch Dopplung der Bilder auf auditiver Ebene. 

Dieses "Mickey-Mousing" ist manchen Puristen vielleicht ein Dorn im Auge, belegt aber zweierlei: Es zeigt zum einen, dass "Das Cabinet des Dr. Caligari" seit seiner Erstausstrahlung im Jahr 1920 nichts von seinem cineastischen Zauber verloren hat, zum anderen aber auch, das Karl Bartos eben viel mehr ist, als der Mann, der Kraftwerk miterfunden hat.