Das Jahr mag mit noch so vielen großartigen Releases geschmückt sein: Wenn IAMX ein Album ankündigt, kann man mit Sicherheit sagen, dass es epochal werden und der Output alles überstrahlen wird. Dieses Mal musste aber die Werbetrommel gar nicht groß gerührt werden, denn der Vorgänger "Fault Lines¹" implizierte bereits durch die hochgesgtellte Zahl, dass ein Nachfolger erscheinen würde. Es waralso nur eine Frage der Zeit, bis Projektinhaber Chris Corner anno 2024 wieder auf der Bildfläche erscheinen würde. Ziemlich genau ein Jahr später zieht er nun nach und komplettiert das Bild von "Fault Lines".
Dieses zeichnet sich durch eine Tour de Force der Emotionen aus, in die sich der Brite einmal mehr mit voller Wucht reinwirft. Aber etwas hat sich verändert: IAMX besitzt bei allem feurigen Sentiment auch eine gewisse Abgebrühtheit. Jede Note, jede Phrasierung Corners ist genauso beabsichtigt. Seine drei Dekaden umspannende musikalische Erfahrung (IAMX existiert seit 2002, davor war der Musiker noch bei den Sneaker Pimps tätig) aber auch der Umgang mit seinen gesundheitlichen Problemen (Corner litt während seiner Hochphase an akuten Schlafstörungen, die ihn in eine Depression rutschen ließen) finden sich in seinen Stücken wieder, sowohl musikalisch als auch textlich.
Deswegen sind auch die Songs auf "Fault Lines²" wieder einmal außergewöhnlich und geradezu schmerzhaft emotional. Dabei wird die ganze Genre-Palette aufgefahren, sodass sich der mittlerweile in LA wohnende Musiker einer genauen Kategorisierung entzieht. Mehr noch: Mittlerweile sind die Songs derart unikat gestrickt, dass man in Zukunft eher folgende Beschreibung lesen wird: "Gruppe XY hat bei IAMX abgeschaut" - so das überhaupt möglich ist, dieses einzigartige Sounddesign authentisch zu kopieren.
Es gehört nämlich eine ordentliche Portion Chuzpe dazu, ungebunden freigeistig zu komponieren. "Neurosymphony" und "Infinite Fear Jets" eröffnen den musikalischen Reigen des aktuellen Longplayers mit einem Doppelwumms. Erstgenanntes Stück brodelt wie Lava mit seinen wummernden Bässen, während Corner seinen fatalistischen Gesang drüber legt. "Infinte Fear Jets" geht sogar noch ein Stück weiter und lässt eine repetitive, technoide Sequenz durch die ganze Nummer laufen, über die verschiedene Improvisationen ertönen, was den hypnotischen Sog dieser Nummer potenziert.
Die Dynamik in "Fault Lines²" ergibt sich aus den klaren Songstrukturen, die aber mit viel musikalischen Schmutz beworfen werden, sodass der intendierte Wohlklang immer Widerhaken besitzt und die Hörerinnen und Hörer unweigerlich in den Bann zieht. Höhepunkt bildet allerdings zweifelsohne das fast schon sakrale "Oceans", bei dem die isländische Sängerin Hafdis Huld zu hören ist. Über eine getragene Pianomelodie und chroalen Gesängen singt Corner nicht mehr: Er scheint wie ein Hohepriester zu beschwören - und wir lauschen im ergeben zu.
Keine Frage: Das Sequel zur ersten "Fault Lines"-Platte ist einmal mehr ein Auswuchs überbordender musikalischer Ideen, wie beispielsweise dem herrlich knorrige 6/8-Takt in "Deathless Wilds", bei der auch die langjährige Chanteuse Janine Gezang wieder zu hören ist. Wenn am Ende "Life Before Death" mit seinen stolpernden Beats und der verwaschenen Klaviermelodie ertönt, hat man nicht nur das Gefühl, dass Corner sich komplett verausgabt hat, sondern auch wir seltsam leer und doch glücklich sind.
Katharsis nennt sich das. Und es gibt kaum jemanden, der dies so gut mit seiner Kunst provozieren kann wie IAMX. Sein tönernes Diptychon reicht dabei an die Qualität seiner großen Alben "The Alternative" und "Kingdom Of Welcome Addiction" heran. Eine (Doppel)Meisterwerk mit Suchtpotenzial.