Musikunterricht kann vieles sein: einschläfernd, gut gemeint, selten lebensverändernd. An jenem Tag jedoch beschloss unsere Lehrerin, dass jeder seine Lieblingsmusik mitbringen, vorspielen und kurz darüber sprechen dürfe*. Für mich war das eine sichere Nummer. Ich war jung, überzeugt und musikalisch fest im Griff von ‘Die Toten Hosen’ und ‘Die Ärzte’. Punkrock bedeutete Haltung, Spaß und Rebellion mit deutschen Texten – Metal war für mich damals eher eine ferne Parallelwelt mit zu viel Leder und zu wenig Ironie.
Dann kam dieser Klassenkollege nach vorne. Still, fast unauffällig, aber mit einer Platte unter dem Arm, deren Cover wirkte, als hätte jemand die Apokalypse mit Tusche illustriert: ‘Walls Of Jericho’ von Helloween. Was aus den Lautsprechern kam, war kein Song, sondern ein Ereignis. Geschwindigkeit, Aggression, Präzision – und ein Sound, der mich gleichzeitig verschreckte und anzog. Ich mochte das nicht. Aber ich konnte auch nicht wegsehen. Oder weghören.
Damals wusste ich nicht, warum mich diese Musik so aus dem Konzept brachte. Heute weiß ich: ‘Walls Of Jericho’ war für meine Punk-Ohren schlicht eine andere Form von Radikalität. Wo Punk Chaos, Haltung und Einfachheit zelebrierte, setzte dieses Album auf Disziplin, Tempo und technische Konsequenz. Das war keine Musik zum Mitsingen, das war Musik zum Aushalten – und genau darin lag ihre Faszination. Ein paar Jahrzehnte später lassen sich die Fakten sauber sortieren. Helloween entstanden Anfang der 80er aus der Hamburger Szene, hervorgegangen aus der Band ‘Gentry’. Der Bandname selbst war bereits ein Statement: eine ironische Verdrehung von Halloween, irgendwo zwischen Horror, Humor und Provokation. ‘Walls Of Jericho’, 1985 veröffentlicht, war das erste echte Lebenszeichen dieser Idee – noch roh, noch ungehobelt, aber mit unüberhörbarem Sendungsbewusstsein.
Ein oft unterschätzter Punkt: Das Album war zunächst kein kommerzieller Durchbruch. Es wurde respektiert, aber nicht gefeiert. Erst Jahre später, mit dem Erfolg der Keeper-Ära und diversen Wiederveröffentlichungen, wuchs sein Ruf zum Kultstatus. Das macht ‘Walls Of Jericho’ rückblickend umso spannender – es ist kein Siegeralbum, sondern ein Pionierwerk. Gesanglich stand Kai Hansen damals noch selbst am Mikrofon, was dem Album seine kantige, fast atemlose Note verleiht. Die Produktion ist rau, das Tempo gnadenlos, die Atmosphäre permanent unter Hochspannung. Hier wird nicht erklärt, hier wird durchgezogen. Und genau das unterscheidet dieses Album von vielen zeitgleichen Veröffentlichungen aus Großbritannien oder den USA: Während dort Heavy Metal oft noch schwer und majestätisch daherkam, entschieden sich Helloween für Vorwärtsdrang und Eskalation.
Für die europäische Szene war das ein Signal. ‘Walls Of Jericho’ zeigte, dass man Geschwindigkeit, Melodik und Aggression verbinden konnte, ohne sich an angloamerikanischen Vorbildern festzubeißen. Es war der Startschuss für eine Welle an Bands, die Metal neu dachten – schneller, technischer, kompromissloser. Dass Deutschland dabei zu einem der zentralen Brutkästen wurde, ist ohne dieses Album kaum vorstellbar. Und ja, mit einem Augenzwinkern betrachtet, ist es immer noch faszinierend, dass so etwas jemals im Musikunterricht laufen durfte. Zwischen Blockflöte und Beethoven plötzlich Speed Metal – pädagogisch fragwürdig, kulturell aber rückblickend ein Volltreffer.
Damals hätte ich ‘Walls Of Jericho’ freiwillig niemals gekauft. Es passte nicht in mein Weltbild, nicht in meine Sammlung, nicht in mein Verständnis von Musik. Heute bin ich froh, dass es mich irritiert hat. Denn genau diese Irritation ist es, die große Alben auszeichnet. Der Stellenwert von ‘Walls Of Jericho’ liegt nicht darin, bequem oder zeitlos schön zu sein. Er liegt darin, ein Fundament gelegt zu haben. Für den europäischen Power Metal. Für eine Szene, die Geschwindigkeit nicht als Gimmick, sondern als Ausdruck verstand. Für Musikerinnen und Musiker, die zeigten, dass Präzision genauso rebellisch sein kann wie drei Akkorde und ein Bier.
Geeignet ist dieses Album heute für alle, die verstehen wollen, woher Power Metal wirklich kommt – roh, ungeschliffen und voller jugendlicher Unbedingtheit. Weniger geeignet ist es für Hörerinnen und Hörer, die Hochglanzproduktionen, große Chöre und Komfortzonen erwarten. ‘Walls Of Jericho’ ist eher Pflichtlektüre als Easy Listening. Was damals im Klassenzimmer wie ein Fremdkörper wirkte, hat sich Jahrzehnte später als Grundstein entpuppt. Und genau deshalb war es überfällig, diesem Album im Jahr 2025 endlich den ausführlichen Review zu widmen, den es verdient – mit dem nötigen Abstand, einer Prise Humor und dem Respekt, den man Pionieren schuldet.
Helloween - Walls of Jericho
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