Es gibt Bands, deren Entwicklung einen so unwahrscheinlichen Bogen schlägt, dass man rückblickend kaum glauben mag, dass das alles in eine einzige Karriere passt – und die 'Eurythmics' gehören zweifellos dazu. Anfang der Achtziger noch als avantgardistisches Synth-Duo gestartet, schufen Annie Lennox und Dave Stewart mit stoischer Konsequenz ihren ganz eigenen Klangkosmos aus kalter Elektronik, scharfen Beats und Lennox’ unverwechselbar androgyner Stimme. Doch hinter all dem lag stets eine Rastlosigkeit, die ihre Musik antreibt wie ein innerer Motor. Nach den experimentellen Wellen von 'In The Garden' und den kühl-digitalen Ikonen 'Sweet Dreams (Are Made Of This)' und 'Touch' war 1985 die Zeit gekommen, das nächste Kapitel aufzuschlagen. Und dieses Kapitel hieß 'Be Yourself Tonight' – ein Album, das so vieles anders machte, dass man sich fragt, ob das Duo in jener Phase einfach keine Lust mehr hatte, sich auf nur einen musikalischen Kontinent zu beschränken.
Man darf nicht vergessen: Als das Album im April 1985 erschien, tobte gerade der Soundtrack der 80er auf allen Frequenzen. Synth-Pop war König, Glam-Rock hielt sich hartnäckig, und Michael Jackson und Prince definierten die Popwelt fast im Alleingang neu. Und mitten hinein platzten die 'Eurythmics' mit einem Sound, der überraschend warmherzig, organisch und soulgetränkt klang – und dennoch unverkennbar sie selbst blieb. Aus heutiger Sicht wirkt das fast wie ein Befreiungsschlag, vielleicht sogar wie ein mutiger Trotzakt: Die Band, die den Synth-Pop geprägt hatte, musste sich nicht länger von ihm definieren lassen.
'Be Yourself Tonight' ist – im besten Sinne – ein Hybrid aus Pop, Soul, Rock und einem Hauch Funk, der die typischen Eurythmics-Motive nicht ersetzt, sondern umarmt und erweitert. Elektronische Grundgerüste bleiben zwar präsent, doch sie treten zugunsten eines deutlich wärmeren Klangbilds zurück. Gitarren, echte Drums, satte Bläser, Gospelchöre und diese unverkennbar erdige 80er-Produktion schaffen ein Album, das mit ausgestreckten Armen ins Licht tritt. Wo frühere Alben manchmal bewusst kalt und künstlich wirkten, zieht diese Platte einen in ein voll ausgeleuchtetes Panorama. Im Zentrum steht natürlich Annie Lennox – und was für eine beeindruckende stimmliche Bandbreite sie hier entfesselt. Sie klingt leidenschaftlicher, direkter, körperlicher als je zuvor, ohne ihre Eleganz zu verlieren. Man merkt, dass sie sich in den souligen und rockigen Arrangements wohlfühlt, geradezu aufblüht. Dave Stewart wiederum liefert ein dichtes, clever produziertes Fundament, das die organische Wärme mit der bekannten Eurythmics-Präzision verbindet.
Die Stimmung des Albums ist insgesamt erstaunlich positiv – geradezu untypisch positiv, wenn man den düsteren Unterton der früherern Werke bedenkt. Statt urbaner Isolation bekommt man hier eine selbstbewusste, lebensbejahende Energie, getragen von einer klanglichen Offenheit, die man im Jahr 1985 bei dieser Band nicht unbedingt erwartet hätte. Was mich aus heutiger Sicht besonders fasziniert: Das Album wirkt unglaublich zeitlos, obwohl es mit seiner Produktion eindeutig in den 80ern verortet ist. Die Mischung aus Soul-Feeling und elektronischem Pop klingt sogar im Jahr 2025 noch immer erstaunlich frisch. Vielleicht, weil es sich eben nie in Zukunftsversprechen oder Kälte flüchtet, sondern auf menschliche Emotionen setzt – ein Rezept, das selten altert.
Und so ist 'Be Yourself Tonight' auch nach 40 Jahren ein Album, das nichts von seiner Kraft verloren hat. Es richtet sich an alle, die Popmusik mögen, die herzhaft, warm, aber trotzdem kantig sein darf. Wer Soul und kräftige Vocals liebt, wird hier ebenso fündig wie Fans gut gealterter 80er-Produktionen, die nicht nur auf Nostalgie setzen, sondern auf Substanz. Für Puristen, die ausschließlich an den frühen, streng elektronischen Eurythmics festhalten, mag das Album vielleicht zu „menschlich“ wirken. Wer jedoch bereit ist, der Band ihren Stilbruch nachzusehen – oder besser: ihn als kreativen Triumph zu feiern – wird ein Werk entdecken, das die Karriere der 'Eurythmics' nicht nur bereichert, sondern neu definiert hat. Kurz gesagt: 40 Jahre später klingt 'Be Yourself Tonight' wie ein Album, das genau weiß, wer es ist – und uns ermutigt, es ihm gleichzutun.
Eurythmics - Be Yourself Tonight
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