Langsam entgleitet der Hammer der klammen Hand, schwebt, für Sekundenbruchteile lautlos, durch die kalte Dämmerung, um schließlich in einem metallischen Klirren aufzuschlagen auf dem staubbedeckten Boden des Ateliers. Direkt daneben, kniend in Splittern weißen Steins, der Künstler, die glasigen Augen geheftet auf sein Werk, welches in die dunklen Höhen der Halle emporragt. Wieviele Tage, Wochen, Monate mögen vergangen sein, in denen er mit dem Material gekämpft, dem groben Block Form abgerungen, die Vision krampfhaft festgehalten hat, die so lang, so intensiv seinen Geist beschäftigte? Und während Regen über die hohen Fenster streicht, den Staub der Zeit hinunter in die Dunkelheit zu waschen, spürt er die Müdigkeit, die Erschöpfung besessener Arbeit... und die Freiheit seiner Gedanken, zum ersten Mal seit langem... Visionen festzuhalten, sich ihrer zu entledigen, sie zu fassen, zu bändigen; dieses Motto paßt fast nahtlos auch auf "Die My Illusion", das aktuelle Werk von Karsten Hamre alias DENSE VISION SHRINE. Der scheinbar endlos aktive, kreative Norweger, der sich in einer Vielzahl von musikalischen, visuellen und "multimedial" kreativen Projekten betätigt, erweitert mit dem vierten DVS-Album in vielerlei Hinsicht den Horizont dessen, was sich gemeinhin und oberflächlich in die Schublade moderner, elektronischer Ambient-Klangkunst packen läßt. Daß diese Art von Musik kaum in gängige Songstrukturen zu packen ist, wird wohl niemand ernsthaft bestreiten wollen, der konsequente Folgeschritt: "Die My Illusion" besteht als CD aus insgesamt genau einem (!) Track mit einer Spieldauer von reichlich 71 Minuten - keine Songtitel, keine Einsprungstellen, neben der "Seek"-Taste des CD-Players keine Möglichkeit, sich eben schnell durch das Album zu zappen, auf eingängige Momente oder Passagen hoffend. DENSE VISION SHRINE, in jeder Hinsicht eine dichte, intensive, gewaltige Vision, ist alles andere als leichtkonsumierbare Kost, die dem Hörer einiges an Offenheit und Geduld abverlangt. Wer aber bereit ist, beides aufzubringen, der kann sich sicher sein, keine Minute dieses Werkes wirklich zu bereuen. Dem hammerschwingenden Bildhauer gleich, treibt der Musiker über die gesamte Spieldauer seine akustische Vision voran, praktiziert Dark Ambient in Bestform, spielt mit verqueren Melodie-Elementen und orchestral anmutenden Einlagen, unterfüttert die dunklen Klangflächen mit eigenartigen Samples und monotonen Rhythmen, verleiht der Musik gleichermaßen die schwer faßbare Bedrohlichkeit von späteren Angelo Badalamenti-Soundtracks ("Twin Peaks", "Mulholland Drive"), die kühle Ritual-Wirkung von CMI-Bands wie Ordo Equilibrio und die warme, langsam und organisch anmutende Atmosphäre alter Tangerine Dream - Alben und generiert damit ein musikalisches Gesamtkunstwerk, gemacht, die Jahre in einer wechselhaften Welt zwischen Kultur und Marketing zu überdauern und auf lange Sicht zu fesseln, zu inspirieren und zu begeistern. Vielleicht faßt jetzt, in diesen kühlen, grauen Herbsttagen, ja doch der eine oder andere da draußen den Entschluß, zu Hammer und Meißel, Pinsel und Farbe, zu Kamera und Computer oder beliebigem anderen Werkzeug zu greifen und sie alle freizusetzen, die Visionen und Gedanken, die wir alle täglich mit uns durch die Welt tragen, derer wir uns teils mehr, teils weniger bewußt sind, die nur darauf harren, geformt zu werden - das aktuelle Werk von DENSE VISION SHRINE liefert auf jeden Fall einen denkbar guten Soundtrack dazu und ist, ganz nebenbei, auf einer Höhe mit TOR LUNDVALL und dem jüngsten NORDVARGR-Album für mich ganz persönlich eines der Ambient-Alben dieses Jahres. Unbedingt antesten!