Im Jahr 2006 suchte die Firma LEGO einen rockigen Song zur Vermarktung für ihre Produktreihe BIONICLE. Christine Lorentzen, Mitarbeiterin der beauftragten Werbeagentur, wurde bald als Sängerin auserkoren. Gemeinsam mit Gitarrist Kasper Søderlund, Bassist Mikkel Maltha und Keyboarder Søren Bendz entstand der Track „Creeping In My Soul“, der sich zu einem kleinen Hit entwickelte. Aus dieser Zweckgemeinschaft, die anlässlich der Promotion von Kinderspielzeug zusammengewürfelt wurde, entwickelte sich schließlich eine eigenständige Rockgruppe. Nicht gerade die klassische Entstehungsgeschichte einer Szene-Band – aber genau auf diese Weise haben sich die Dark-Rocker von Cryoshell zusammengefunden. Nun schicken sie sich an, mit ihrer ersten Veröffentlichung auch den deutschen Markt zu erobern. Das hört sich alles nach einer seelenlosen Retortenband an? Man kann sich dieses ersten Eindrucks kaum erwehren. Aber entscheidend ist ja letztlich, ob Cryoshell musikalisch überzeugen können – und da wartet auf den Hörer eine Überraschung: Denn was die Dänen auf ihrem selbstbetitelten Debüt fabrizieren, ist gar nicht von schlechten Eltern! Da wäre zum Beispiel „Bye Bye Babylon“, ein clever mit orientalischen Elementen infizierter Rocksong, der Erinnerungen an Lacuna Coil weckt. Besonders im Chorus entfaltet der Track eine hohe Energie und geht schnell ins Ohr. Auf ganz andere Weise überzeugt „Closer To The Truth“, ein Track mit hübschen Piano-Parts, der aufgrund seines stark gedrosselten Tempos eine angenehme Schwerfälligkeit entwickelt. Besonders stark sind Cryoshell in den Momenten, in denen sie es ganz unverhohlen auf Radiokompatibilität anlegen. „Falling“ geht vom Klang her in Richtung Alternative Rock und weist in der Leadgitarre Reminiszenzen an „When You Were Young“ von den Killers auf. In meinen Augen eines der Highlights des Albums! In eine ähnliche Kerbe schlägt auch der gelungene melancholische Popsong „The Room“. Der absolute Tophit des Albums ist für mich der Opener „Creeping In My Soul“. Dieser Titel wird sicherlich polarisieren: Zu offensichtlich ist die strukturelle Ähnlichkeit mit dem Evanescence-Klassiker „Bring Me To Life“. Crossover- und Nu Metal-Einflüsse sind unüberhörbar und kulminieren in einem männlichen Rap-Part à la Mike Shinoda – das ganze wirkt zwar irgendwie skurril anachronistisch, fügt sich aber trotzdem perfekt in den Song ein. Zum Finale hin nimmt der Track weiter an Dramatik zu und bietet Christine Lorentzen die Möglichkeit, die Qualitäten ihrer Stimme unter Beweis zu stellen. Hervorragend! Cryoshell verstehen ihr Handwerk ausgezeichnet und wissen, wie man ein massenkompatibles Rockalbum produziert. Selbstverständlich versäumen sie es nicht, ihr Debüt mit einer schicken Ballade zu krönen. „No More Words“ kommt zwar nicht an das Niveau von Evanescences „My Immortal“ heran, weiß jedoch trotzdem zu gefallen. Aber dieser Song verstärkt auch den latenten Eindruck, dass Cryoshells Erstling am Reißbrett entworfen wurde. Ein bisschen Linkin Park und Evanescence, ein paar Hard Rock-Elemente, viele Keyboard-Parts voller Pathos – offensichtlich sollte ein möglichst breiter Geschmack getroffen werden. Das bedeutet in Konsequenz, dass das Album zwar technisch tadellos ist, dafür ebenfalls sehr glatt und an manchen Stellen etwas belanglos erscheint. Trotz dieser zu kritisierenden Aspekte ist der Gesamteindruck des Albums für mich aber sehr zufriedenstellend. Fans von wirklich alternativen Klängen, die es sperrig und innovativ mögen, werden Cryoshell vermutlich nicht ausstehen können. Wer dagegen auf Dark-Rock/Metal mit weiblichem Gesang und hohem Popappeal steht, für den ist Cryoshells Debütalbum eine vorzügliche Wahl.