Ach, was haben sie gelästert und sich nachher diebisch gefreut, als Chris Harms und seine Band Lord Of The Lost vor zwei Jahren beim Eurovision Song Contest krachend gescheitert sind! Verrat an der Szene, riefen die Gralshüter, als die Gruppe "Blood & Glitter" vor einem Millionenpublikum zum Besten gab. Natürlich nicht alle. Aber doch nicht wenige. Diese übersehen jedoch, welches Talent Chris besitzt. Bereits seine ersten musikalischen Gehversuche bei der Electroformation UnterArt deuteten es an. Das Album "Memento" von 2008 gehört nach wie vor zu einem der stärksten Longplayer der Nullerjahre, weil es geradezu mühelos harte Beats mit einer poppigen Eingängigkeit verband.
Die letzten Zweifler sollten gezwungen werden, in "1980" reinzuhören - und zwar in den Abschlusssong "May This Be Your Last Battlefield", einer reduzierten, intimen Ballade, in der Chris seine ganzen Emotionen in den Text wirft. Wer bei diesem Lied nicht zumindest einen leichten Schauer über dem Rücken verspürt, muss innerlich tot sein. Aber auch sonst erleben wir einen Künstler, der sich einmal mehr neu definiert. Spielen wir dabei ein bisschen mit den Metaebenen, die uns der Albumtitel anbietet.
"1980" ist nicht nur Harms' Geburtsjahr, sondern verweist auch auf die Musik, die einen auf dieser Scheibe erwartet: Es wird synthielastig. Ist das Album also nicht nur eine Verbeugung vor dem vielleicht besten Popjahrzehnt, sondern auch die Offenlegung der musikalischen DNA des Hamburgers? Wie schon vorher erwähnt: Um eingängige Tunes war der Musiker noch nie verlegen.
Da liegt es eigentlich nahe, die Welt glitzernder Sequencer und treibender Beats zu betreten. Chris Harms lässt dabei keine kitschige Keyboard-Fanfare, keine hektischen E-Drumfills oder abgeschmackten Orchestral-Hits links liegen. Alles, was damals in den angesagtesten Musikproduktionen "state of the art" war, erlebt ein Upcycling auf "1980". Zugegeben: Das haben schon einige andere Bands und Projekte vor ihm auch gemacht (an dieser Stelle seien die fabelhaften Italo-Disco-Wiederbeleber Nuovo Testamento erwähnt).
Ein Stück wie "She Called Me Diaval", das sich stilistisch irgendwo zwischen Kim Wildes "View From A Bridge" und A-has "Take On Me" bewegt, zeigt jedoch Harms Gespür für perfekt arrangierte Nummern. Ebenso lebt "Lunamor" von einer unverschämt eingängigen Hookline. Für dieses Stück wie auch für "Madonna Of The Night" (mit Gastsänger Sven Friedrich von Solar Fake) würden andere Musiker morden.
Apropos Gastsänger: Auch Ronan Harris von VNV Nation taucht bei "The Grey Machines" auf. Tatsächlich hätte man den Wahlhamburger einen Song vorher vermuten können: "Past Pain" hätte wegen seines elegischen Habitus und der jubilierenden Melodieführung sogar noch besser zu Harris' gefühlvollen Gesang gepasst. Dieser Song zeigt aber noch was anderes: So sehr das Album eine Reminiszenz an die synthetische Popmusik der frühen und mittleren 80er ist, so wenig bleibt Harms sklavisch an dieser Epoche hängen. Vielmehr versucht er, den Spirit dieser Zeit mit den aktuellen produktionstechnischen Mitteln neu zu beleben.
Mit Sicherheit werden sich auch über "1980" einige die Mäuler zerreißen: "Auf den Retrozug will er aufspringen, um noch einen schnellen Euro zu machen" höre ich die nächsten Kritiker schon rufen. Und warum macht er das? Weil er es kann - und zwar um Längen besser als manch anderer Genreliebling. Tatsächlich klingt sein erstes Solo-Album so, als habe er sein ganzes Leben gar nichts anderes gemacht als elektronische Musik zu komponieren. Kein Blood, aber sehr viel Glitter.