Dass das kanadische Vancouver auf der Landkarte der elektronischen Musik überhaupt zu finden ist, verdankt die Stadt vor allem zwei Gruppen: Front Line Assembly und Skinny Puppy, deren industrieller Rock- und Maschinenklang die Soundgewohnheiten und Ästhetik musikalischer Härte auf ein neues Level hievten. In beiden Bands spielte der Österreich-Kanadier Bill Leeb mit. Dabei war der Aufenthalt bei Skinny Puppy nur kurz. Seine eigenen Ideen verwirklichte er ab 1985 unter dem Moniker Front Line Assembly, die für kommende Musikergenerationen Leitbild und Ikone werden sollte. Zunächst ohne fremde Hilfe, wurde später vor allem Rhys Fulber als kongenialer Partner zu einer weiteren festen Größe.
Deswegen kann man bei "Model Kollapse" nur bedingt vom ersten Solo-Album Leebs sprechen. Allerdings ist es das erste Werk, bei dem der Musiker sozusagen mit seinem eigenen Namen bürgt. Wenn man sich aber die Entourage betrachtet, die bei der Realisierung des Albums mitgewirkt hat, fallen vor allem Actors auf (die Post Punker sind bei zwei Songs zu hören) sowie die Tatsache, dass Rhys Fulber auch wieder mit von der Partie. Also alles wie immer und "Model Kollapse" ist nur alter Wein in neuen Schläuchen? Nicht ganz!
Man ist geneigt zu glauben, dass der Mann mit seinem offiziellen Solo-Projekt befreiter aufspielen kann, weil es keine Erwartungen seitens der Hörer und/oder Presse zu erfüllen gilt. Zwar geht Bill Leeb auf der Scheibe weiter unbeirrbar den bereits eingeschlagenen Weg, doch sind die Scheuklappen abgelegt und sein Sound extrem durchlässig für verschiedene Stile. So hat "Terror Forms" dank der Beteiligung von Actors-Chanteuse Shannon Hemmett einen angenehmen Melancho-Einschlag. Besonders wattebauschig wird er bei "Simulations" - zumindest klanglich. Da kommen breite, pastellige Flächen zum Tragen. Auch "Erosion Through Time" gibt sich balladesk und erlaubt den Synthies, ihre glitzernde Schönheit preiszugeben. "Neuromotive" dagegen arbeitet sich mit druckvollen Beats durch den Song, der dem EBM-Prototyp deutlich Tribut zollt. Trotz der vielen stilistischen Versatzstücke bleibt das Album ein typischer Leeb.
Schließlich kann Bill nicht aus seiner Haut. Seine musikalische Handschrift ist zwar überdeutlich, aber der Versuch, sich anderen Sounds zu öffnen, ohne aber den roten Faden des Longplayers aus den Augen zu lassen, unterscheidet seine Solo-Arbeit von den letzten Veröffentlichungen seiner Hauptband. Diese krankten nämlich an massiver Ideenlosigkeit.
Dennoch muss man sagen, dass der Blondschopf auf seinem neuesten Album sicherlich keine großartigen Experimente wagt. Und ein bisschen könnte man ihn auch eine zu große Abgebrühtheit vorwerfen, denn bei den Liedern fehlt, bei aller handwerklichen Raffinesse, oftmals ein Überraschungsmoment. Die knackigen Bässe wie bei "Fusion" sind allerdings erste Sahne und suchen momentan seines Gleichen in der Szene.
"Model Kollapse", das sich mit dem Thema der künstlichen Intelligenz auseinandersetzt, zeigt, dass der Endfünfziger nicht nur am Puls der Zeit agiert, sondern auch in vollem kreativen Saft steht. Vielleicht gelingt es ihm auch, die Frische seiner Solo-Aktivitäten auch auf seine Stammband zu übertragen. Vorerst kann man sich aber getrost dem Album "Model Kollapse" zuwenden, hinter dem man die musikalische Kaltschnäuzigkeit eines Mannes vermutet, der Dekaden im verrückten Musikzirkus verbracht hat und den daher auch nichts mehr so schnell aus der Bahn wirft. Selbst wenn man an einigen Stellen das Gefühl hat, dass der Mann seine eigene Musealisierung vorantreibt, kann dieses Werk zumindest an einigen Stellen einen Zauber entfachen.