„Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern!“ Mit diesen Worten forderte Mao 1956 die chinesische Bevölkerung auf, zum Wohle und Fortschritt des Sozialismus konstruktive Kritik an der Regierungspolitik zu äussern, Vorteile und Missstände des Systems aufzuzeigen. Als Folge liessen nicht nur die eigentlich angesprochenen Intellektuellen bzw. Akademiker ihrem Frust mit den weniger erfreulichen Zuständen im Land freien Lauf, sondern alle, die unter dem Regime und ihrer Politik litten. Die Volkspartei korrigierte daraufhin ihren Kurs und unterdrückte alle Meinungsäusserungen (und Äusserer), die ihnen zu systemfeindlich waren. Dieses Ereignis wird als die "100 Blumen-Bewegung" bezeichnet. Ich bin mir nicht sicher, ob Marcel Nickels dies im Kopf hatte, als er sich für diesen Namen entschied, doch seine Punk-Wurzeln sowie ein Blick auf die Titel seiner bisherigen Veröffentlichungen legen die Vermutung nahe, geht es doch häufig um Konflikt, Aufruhr, Widerstand oder Anarchie. Ein hervorragendes Konzept für den grösstenteils aggressiven Industrial und Rhythmic Noise, mit dem uns der militante Naturfreund aus Düsseldorf seit ca. 2004 beglückt. "Down With The System, Long Live The System!" ist sein drittes Langspiel-Gesteck und hat sich nun in meinen Blumenkasten verirrt. Das Album wird eingeleitet mit einer, wer hätte es gedacht, Einleitung: "Introduction" setzt sich zsammen aus stetigem, langsamem Bass-Kick, im Verlauf lauter werdenden, repetitiven Streicher- sowie durchgehend eingestreuten, knappen französischen Sprach-Samples. Hiermit hebt sich das neue Werk schon von früheren ab, starteten diese doch schon am Anfang durch. Wer hier Angst bekommen sollte, das falsche Album gekauft zu haben, wird mit dem folgenden, tanzflächenorientierten "The Unrest" wieder beruhigende Gewissheit erlangen, denn hier gibt es schnelle, dichte Beats, die in den nicht wenigen Breaks auch mal als eine Art Maschinengewehrsalve vorkommen. Mit den übrigen rhythmusgebenden, stark verzerrten Drum-Komponenten wird dann eine brachiale Noise-Collage erschaffen, wie man sie von 100Blumen kennt. Auch im dritten Stück, "The Bullet", kommt ein Bass-Kick nie allein, aber in einem gemächlichen mittleren Tempo, und brummt sich durch die niederen Frequenzbereiche. Dazu gesellt sich dann nach einer Weile hektischem Synth-Geklimper auch ein flächiger Melodiebogen, der zusammen mit einem prägnanten Clap-Sound und dessen Echo meine Ohren begeistert und dieses Lied zu meinem Favoriten auf dem Album macht. In den folgenden drei Liedern bleibt das Tempo eher gelassen, wobei "Tired Green" das langsamste und atmosphärischste Stück der Platte darstellt. Hier wird ein minimalistischer Rhythmus, der auch von einer gesprungenen Platte kommen könnte, gepaart mit einer ebenso repetitiven Klangfläche, die im Verlauf noch um ein oder zwei dezente Schichten erweitert wird und nahezu trance-induzierend wirkt.War die erste Häfte, mit Ausnahme von "The Unrest", noch halbwegs einlullend und entspannend, die zweite ist es mit Sicherheit nicht. "Crash" und "The Anger" erinnern an Stücke wie "Blumen100" und schütteln als unerbittliche Rhythmic Noise-Tracks, und im Falle von "The Anger" mit knackigem Kick, die Blattläuse von den Zimmerpflanzen. "Klimaveränderung" muss als letztes Stück dieses Albums besonders hervorgehoben werden, ist es doch in Kooperation mit dem Gitarristen Chris Tiegelkamp und Shane Talada (manchen sicher bekannt als The Operative oder Marching Dynamics) entstanden und 15 Minuten lang. Das Stück teilt sich in 3 Phasen auf, in der ersten gibt es beat-gestützte Gitarren-Riffs in Punk-Rock-Manier, in der zweiten setzt ein träger, stark verzerrter Bass ein, begleitet von einem scheppernden, langgezogenen Snare-Sound, der an einen auf Stahl schlagenden Hammer erinnert, und in der dritten gibt es noch etwas chilligen Dub, der sich kurz vor Ende nocheinmal zu einer Noise-Attacke wandelt. 100Blumen vereint auf "Down With The System, Long Live The System!" Altes mit Neuem: einerseits erkennt man eindeutig seine Signatur, wenn er die akustische Daumenschraube anlegt, andererseits hat es bisher auf keinem seiner Alben soviele eher ruhige und ungewohnte Ansätze gegeben. Es scheint, als ob Nickels sich diesmal auch mehr Gedanken um die Zusammenstellung und den Aufbau gemacht hat, denn er stellt hier sozusagen Ruhe und Lärm gegenüber, wodurch er den jeweiligen Effekt potenziert, und es kommt auch nicht so schnell Langeweile auf. Ich habe zudem den Eindruck, das häufiger Breaks eingesetzt wurden als früher, aber ich kann mich auch irren, und nachzählen wäre mir nun etwas zu aufwändig. 100Blumen-Fans dürften nichts an der Platte auszusetzen haben, ausser sie erwarten eine Aneinanderreihung von "Mr.Sister". Alle anderen Electro-Enthusiasten, die keine Angst vor etwas Lärm haben, können sich beruhigt heranwagen, ich denke hiermit wird man ein schönes Beispiel deutscher Rhythmic Noise-Kunst in der Hand halten.