Über das Ruhrgebiet gibt es wohl mindestens so viele längst überholte Klischees wie über Gruftis. Beide sind ja eigentlich nicht existent. Trotzdem hat die größte deutsche Städteagglomeration auch die weltweit höchste Gruftidichte. Um sich da des Nachts nicht zwischen Fußball, Currywurst-Pommes-Schranke oder Hattinger Panhasfest kulturell zu verirren brauchte es Zielgruppenmarketing. Und seit knapp eineinhalb Jahrzehnten gibt es da nun dieses Projekt: nachtplan. Aus einem simplen Faltblatt mit Party-Verweisen und einem Charme, den nur ein beinharter Fan lieben konnte, entwickelte sich über die Jahre ein auflagenstarkes Szene-Medium.

Die drei Fragezeichen der schwarzen Szene des Ruhrgebietes "Wat gibbet? Wat is? Wie isset?" wurden alsbald flankiert von eigenem Merchandise, einer App, Streams, Samplern und Mixes von Krischan Jan-Eric Wesenberg (Rotersand). Und auch das Magazin legte gehörig zu. Seit 2005 ziert stets eine dunkle Schönheit das Cover, 2015 kam endlich Farbe ins Layout, die stets zweimonatliche Ausgabe enthält inzwischen neben Terminsammlung, Hitparaden-Positionen und Anzeigenschaltungen nun richtig Content. Lange bevor man wusste, dass mit Ruhr.2010 keine ansteckende Krankheit gemeint ist, gab es hier den interessantesten Teil des kulturellen Spektrums der Region. Armin Dettlelburgh zieht darin immer wieder "Planlos durch die Nacht", Lothar Pöller gibt hier exklusive Tipps zudem was heute so im musikalischen Untergrund noch geht, regelmäßig findet man hier die besten Artikel aus dem deadline-Filmmagazin, und dem BODYSTYLER ElectroZine wieder.

Und dann ist da noch "Dem Doktor seine Seite". Dr. Mark Benecke hängte Ende 2011 seinen Nebenjob, als Kolumnist der Frankfurter Rundschau und des Laborjournals an den Nagel. Nur um vom Beginn des nächsten Jahres an seine ureigenste Seite im nachtplan auszuleben. Die Präsentation wissenschaftlicher Themen in Funk und Fernsehen ist ja das Eine, sein dunkelbuntes Privatleben jedoch das Andere. Wobei der Doktor wohl nie wirklich einen großen Unterschied zwischen beider Leben und Welten gemacht hat. Er ist gewissermaßen der erste multimediale Influencer der Szene. Ein Echolot. Stets um Ausdifferenzierung bemüht, und darin aufzuzeigen wie eine so vielfältige Subkultur das Leben lebenswert macht. Dabei erstellt er wie nebenher die überaus erfrischende Gegenthese zur letztjährigen Jugendstudie des Heidelberger Sinus-Institut. Was da 2012 mit einem Clash der Musik-Kulturen begann, und gerade erst bei Vampiren in London endete, spannt einen weiten Bogen seiner Beobachtungen von Räubern, Prinzen und Protestlern, hinüber zur Beantwortung von Leserfragen zu Vampiren und Festivals, bis hin zu Überlebenstipps als Grufti im Karneval. Man begreift auf dieser seiner Seite, dass man auch als Grufti im Stino-Leben feste mitmischen kann, Clubbing auch bei Depressionen aufschlussreich ist, wie ungemein wichtig doch kreative Outfits sind, wozu der Mensch so alles fähig ist, und dass auch Elektroboys auf Mittelaltermärkten ihren Spaß finden.

Magie an sich ist ein Thema, wie auch selbstbetrugsfreier Tierproduktverzicht. Und über allem schwebt die Erkenntnis, dass schwarz tolerant macht. Ein äußerst treffend und humoriges Kaleidoskop der Szene. Jede Seite ein Liebesbrief. In einem kompostierbaren Medium, mit kurzem Haltbarkeitsdatum. Hand aufs Herz, wer hat noch sämtliche Ausgeh-Planer der letzten fünf Jahre im Keller? Wer hat noch alle ausgerissenen Artikel beisammen? Genau! Und hier kommt nun der noch blutjunge EYGENNUTZ Verlag ins Spiel. Das Team um Bianca Stücker nahm jenes verlegerische Wagnis auf sich, sämtliche Seiten des Doktors aus dem nachtplan zu bündeln. Im Original-Layout, und bildschön eingefasst von Brigitta Settels. Dazu noch auf haptisch ansprechendem Papier, in festem Einband, und gedruckt in einer lettischen Druckerei, welche bereits im Jahre 1848 die "Lebensbeschreibungen von Bürgern, die sich als Kaufleute, Mechaniker, Handwerker und Landwirte zu Achtung und Ansehen emporgehoben.

Ein biographisches Lesebuch für die reifere Jugend" druckte. Mehr ehrwürdige Tradition in Sachen Anthologie geht kaum. Mehr schwarzer Humor war selten. Zweieinhalb Tafeln Schokolade dürften kaum genau so viel Serotonin ausschütten wie der Lesegenuss dieser 250 Gramm, ähm, jener 48 Seiten.