„Bah, schon wieder eine neue Synthpop-Band!“ Wie oft musste ich derartige Aussagen, die mehr von Ignoranz und Neid, als von echter musikalischer Aufgeschlossenheit zeugen, in den letzten Jahren lesen, sobald ein vielversprechendes Release einer der breiten Öffentlichkeit eher unbekannten Formation in diversen Szenemagazinen besprochen wurde. Deshalb muss der Medienkonverter in unregelmäßigen Abständen für kritische Relativierungen meinerseits herhalten. Denn vergleichbare Klagen à la „och nööö, nicht noch eine weitere Punkrock-CD“ oder „Hilfe, das Helene Fischer-Lied klingt doch genauso wie alle anderen Schlager“ vernehme ich eher selten.

Für Verächter elektronischer Popmusik gilt demnach ab sofort: Bitte nicht mehr weiterlesen! SO, da uns jetzt die unangenehmen Menschen verlassen haben, können wir Klartext reden. Das Leipzig-Münchener Duo „Gimme Shelter“, beim jüngsten Talentwettbewerb des „Sonic Seducers“ auf einem beachtlichen 4. Platz gelandet, schickt sich an, über das italienische Label „Space Race Records“ die europäische Synthpop-Szene aufzumischen: „Warnemünde“ lautet der Titel des lang erwarteten Debütalbums der seit 2009 bestehenden Band. Visuell in Erscheinung getreten ist man zuletzt via Youtube, wo der charmante Videoclip zum Song „Homerun“, dem Opener der 13 Tracks umfassenden CD, äußerst positives Feedback erfuhr. Der groovige Song mit Ohrwurm-Refrain zählt definitiv zu den Highlights, da er viele Zutaten eines potenziellen Hits besitzt, wobei die Backing Vocals im Chorus durchaus stärker in den Vordergrund hätten gemischt werden können. Generell ist die Produktion jedoch als sehr hochwertig zu bezeichnen, was insbesondere beim sehr „meshigen“ „Lead Me On“ deutlich wird, das ein schön ausdifferenziertes Klangbild offeriert.

Zum klassischen Trademark-Song könnte „Von Grün zu Schwarz“ avancieren: lyrischer Tiefgang, ein klarer Gesang sowie geschickt gesetzte Sounds aus dem Melotron / Endanger-Kosmos kreieren einen hohen Wiedererkennungswert. Auch für Depeche Mode-Fans hält das Album eine Perle bereit: Das zart instrumentierte „It makes no sound“ ist das fehlende Bindeglied zwischen „Black Celebration“ und „Music for the Masses“, zumindest ist der klanglich perfekte Brückenschlag. Textlich sprechen Gimme Shelter sowohl persönliche Gefühle („Spürst du den Schmerz in meinem Herzen…“) als auch politische, gesellschaftskritische Fragen an. „Hans Mayer“ darf dabei als Würdigung des bekannten Leipziger Literaturprofessors gelten, der Zeit seines Lebens nirgendwo wirklich zu Hause war, als Jude und Homosexueller mit multiplen Diskriminierungserfahrungen zu kämpfen hatte, die DDR stets kritisierte, sich aber dennoch als Sozialist verstand und mit dem Satz „Das schlechte Ende widerlegt nicht einen möglicherweise guten Anfang“ ein politisches Motto für einige Vertreter der Linkspartei prägte. Zu den inhaltlichen Aussagen des eingängigen „Volk 3“ kann man als Hörer sicherlich genauso unterschiedlicher Meinung sein wie zur Frage, ob die Lyrics von „Die Wiege“ nicht zu pathetisch daherkommen.

Musikalisch ist die neueste Entdeckung des aktiven Labels allerdings über jeden Zweifel erhaben und dürfte für jeden Fan dieser Musikrichtung ein paar neue Lieblingssongs parat halten. And One-Hörer sollten mit Track 12 und 5 einsteigen, De/Viosion-Anhänger mit 1 und 4, während die Future-Pop / EBM-Fraktion mit 2 und 8 gut bedient sein könnten. Noch sinnvoller ist es jedoch, gleich das ganze Album in einem Rutsch durchzuhören, denn ein echter Ausfall ist nicht zu verzeichnen. Tja, liebe Dauerzweifler, der Synthpop lebt! Allen Unkenrufen zum Trotz erscheinen Jahr für Jahr mindestens ein halbes Dutzend qualitativ überzeugender Alben, die echte Bereicherungen eines jeden CD-Regals sind. Zählen wir also auch in diesem Jahr mit: Gimme Shelter haben für 2015 den ersten Pflichtkauf abgeliefert.