Drummer Stephen Morris ist nie wirklich warm geworden mit "Brotherhood". "Die Scheibe hat eigentlich nicht funktioniert", so sein rückblickendes Fazit. Was seiner Ansicht nicht funktioniert habe, war die "schizophrene" (O-Ton Morris) Idee, eine Platte zu machen, die zwei unterschiedliche Stile präsentiert. In der Tat ist dieser Umstand der vielleicht prägendste für dieses Album, das im Vergleich zu den anderen Werken etwas abfiel - nicht qualitativ, aber in der medialen Aufmerksamkeit.
1986 kam "Brotherhood",das vierte Album der Gruppe, auf dem Markt. Zu diesem Zeitpunkt war die Band längst aus dem Schatten ihres frühren Lebens als Joy Division mit SängerIan Curtis entstiegen und hat sich einen Sound ausgedacht, der alternative Diskothekenmusik neu und nachhaltig definierte. "Movement" (1981) war noch im Post-Punk verwurzelt, "Power, Coruption & Lies" (1983) definierte jedoch bereits den typischen New-Order-Sound und führte ihn zwei Jahre später auf "Low-Life" weiter. Zwar waren die Erfolge vor allem außerhalb Großbritanniens überschaubar, aber New Order hat defintiv Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Vielleicht ist "Brotherhood" aber auch deswegen etwas untergegangen, weil ein Jahr später mit "Substance" die vielleicht wichtigste Scheibe erschien - eine Zusammenstellung der frühen Maxi-Singles, darunter das unkaputtbare "Blue Monday". Und schlussendlich besaß "Brotherhood" nur einen richtigen Hit, der aber das ganze Album überstrahlte: "Bizarre Love Triangle". Diese Auskopplung war für die Band eine wichtige, da sie mit ihr auch den Musikmarkt in "Down Under" und den Vereinigten Staaten erschloss.
Im Windschatten der Single sind aber einige Songs hintenüber gefallen, die es Wert sind, etwas genauer unter die Lupe genommen zu werden. Da wäre zum Beispiel das Elektronik-Stück "Every Little Counts", dessen Ende so klingt, als würde der Plattenspieler die Geschwindigkeit verlieren und gleichzeitig auch noch die Nadel aus der Rille hüpfen (Morris hätte sich drei unterschiediche Versionen je nach Tonträger gewünscht: leierndes Band für Kassetten und abgehakter Sound für CDs). Die auf Post-Punk gebürsteten Songs auf der ersten Seite beherbergen ebenfalls einige Juwelen, unter anderem "Broken Promise", das einmal noch recht unverfälscht die Joy-Division-Vibes hochkommen lässt und wie ein letzter wehmütiger Blick in die Vergangenheit wirkt.
Die Bonussektion dieser "Defintive Edition" überrascht ein wenig, denn sie bezieht sich nicht vollends auf das Album. Neben Demoversionen, Remixen und unveröffentlichten Aufnahmen, finden sich auch die Salvation Version von "Touched By The Hand Of Goth". Ebenfalls wurde "Blue Monday" auf diesem Rerelease draufgepackt - in der 88er Version, produziert vom vor wenigen Wochen verstorbenen Quincy Jones, allerdings im Remix von Michael Johnson. Aber was heißt Remix? Das Lied hat sich in seiner Struktur nicht verändert. Johnson hat lediglich dem Schlagwerk mehr Raum gelassen und die Keyboards in den Hintergrund gestellt. Eine Variante für Fans vielleicht; sonderlich überraschend oder unerwartbar klingt sie allerdings nicht.
Da macht die DVD-Sektion mit teilweise seltenen Fernsehauftritten schon mehr Sinn, zeigen diese Aufnahmen doch, dass die Band sich in einer Zwischenwelt befand. New Order wollten Bekanntheit erlangen. Aber nicht durch bloßes Anbiedern an den Pop-Mainstream, sondern durch ihre künstlerische Vision, die sie wenig später mit der Diskothek Fac 51 Haçienda im großen Stile realisierten (und nebenbei das Genre Manchester Rave beziehungsweise Madchester mitinitiierten).
Auch wenn Stephen Morris hart mit "Brotherhood" ins Gericht gegangen ist, so zeigt diese Platte wie keine zweite den Werdegang der Band von malochenden Post-Punkern hin zu extrem coolen Dance-Avantgardisten. Nicht zuletzt ist das Album auch ein Kind seiner Zeit, in der es möglich war, eine Seite nur mit Gitarrensounds und die andere ausschließlich mit elektronischen Klängen zu füllen. Der künstlerische Leitspruch "Anything goes!" gilt für die 80er im Allgemeinen und für New Order im Besonderen.