Der Ruf des Franzosen Mike Levy, der unter seinem Künstlernamen Gesaffelstein - eine Mischung aus Gesamtkunstwerk und Einstein - Musik macht, ist riesig. Beim Enddreißiger geben sich namhafte Kollegen aus allen Sparten die Klinke in die Hand. Depeche Mode, The Weeknd, Kanye West, Pharell Williams und Lana Del Rey sind nur einige Namen, die Levys Talente schätzen und ihn wahlweise als Remixer oder Produzenten engagieren. Vielleicht dauert es auch deswegen immer etwas länger, bis von Gesaffelstein eigenes Material auf den Markt kommt. Aus der Vergangenheit weiß die geneigte Hörerschaft aber: Es wird gut werden.

Und siehe da: Es ist gut! "Gamma" wurde zum erwarteten Befreiungsschlag, den sich Gesaffelstein selbst gegönnt hat, nachdem er mit seinen prominenten Kollaborationen doch schon ordentlich in die Strömung des Mainstreams eingesogen wurde. Das Album hebt Levys Liebe für unkonventionelle Elektronik zwischen DAF, Daft Punk und Dampfwalze hervor und etabliert ihn erneut als Mann, der einen ähnlichen Stand in der Musik hat wie Franz Kafka in der Literatur. Denn der Schriftsteller war bekannt für seinen ganz eigenen Stil, der sich zwar zeitgenössischer Stile bediente, aber dennoch eine ganz eigene Bildersprache erschuf, welches sogar ein neues Adjektiv hervorbrachte: kafkaesk. Gesaffelstein kommt natürlich vom French House und verkehrte bereits mit Daft Punk oder Justice. Doch seine Musik ist nicht den gängigen Genres zuzuordnen. Da braucht's dann auch ein neues Wiewort: gesaffelsteinesk?

Wie dem auch sei: Bei "Gamma" tobt sich der Musiker ungeniert aus; unterstützt wird er dabei dieses Mal nur von einem Mann: Yan Wagner. In Deutschland eher leidlich bekannt, besticht der Franko-Amerikaner vor allem durch sein erstaunliches Crooner-Talent, was ein gelungener Kontrapunkt zum kantigen Sound Levys bildet. Mike geht in seiner Experimentierlust sogar so weit, dass er in "The Urge", das durch einen schneidigen EBM-Beat besticht, völlig unvermittelt in einen ganz anderen Stil switcht, der - auch aufgrund Wagners Sangestalent - an die Pop-Schmonzetten der 60er Jahre erinnert. 

Gesaffelstein zeigt sich damit als Punker im Herzen (auch wenn sein stets adrettes Auftreten in den Medien zumindest optisch etwas völlig anderes aussagt). Selbst ein süßlicher Song wie "Lost Love", bei dem die Synthesizer sich in Melodien ergießen, die so klebrig wie Zuckerwatte sind und Wagner mit einer großen Portion Pathos die Suche nach seiner Geliebten besingt, wirkt so dermaßen over the top, dass man hier das Stilmittel der Ironie zumindest vermuten darf.

Den Rest des Albums nimmt Gesaffelstein jedoch keine Gefangenen und bleibt kantig und so roh wie ungebratenes Hack. "Hard Dreams" und "Your Share Of The Night" liefern jedoch die besten Beweise ab, dass bei aller "edgyness" die Eingängigkeit nicht unbedingt den Kürzeren ziehen muss. Natürlich besitzen jene Songs das größte Suchtpotenzial, deren Titel bereits wilde Feierei versprechen: "Hysteria" und "Mania" sind zum einen Electro-Punk und zum anderen röhrende Synthesizerbearbeitung, die fast schon an die durchgedrehten Nummern aus der prosperierende Gabber-Zeit der Mittneunziger erinnern. Schließlich feiert "Psycho" noch einmal die unbändige Kraft wuchtiger Maschinenrhythmen. Der Song klingt wie die elektronische Antwort auf die immer noch zeitlos schönen Percussion-Nummern von Guem Et Zaka aus den 1970ern (die ihrerseits die Techno-Musik nicht unwesentlich beeinflussten).

"Gamma" ist ein Musik gewordener Fiebertraum, ein losbrechender Sturm, bei dem am Ende kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Fünf Jahre nach dem letzten Album "Hyperion" hat sich bei Mike Levy anscheinend so viel künstlerischer Druck aufgebaut, den er nun in Form von "Gamma" entweichen lässt. Einziger Kritikpunkt sind die eigentlich viel zu kurzen Songs (nur ein Lied schafft mit Ach und Krach mehr als drei Minuten); einige Tracks hätten ruhig noch ein paar Takte mehr besitzen können. Aber das hätte vielleicht die Unmittelbarkeit von "Gamma" zerstört.