Der Menschenfresser von Rothenburg bekam in der vergangenen Zeit so viele Schlagzeilen wie Deutschlands Vorzeigepromis. Die grausame Tat und die anschließende Gerichtsverhandlung war für viele deutsche Künstler inspirierender Nährboden: Man denke nur an den kurz vor Veröffentlichung verbotenen Kannibalenfilm oder auch ans Rammsteins „Mein Teil“. Analysen eines mystischen Phänomens, dass in der sterilen Konsumwelt fast in Vergessenheit geriet. Um so interessanter ist diese Erscheinung natürlich für die Kunst. Rudy Ratzinger alias :Wumpscut: sog auch stets solch extreme, sich zwischen Faszination und Ekel bewegende Themen in sich auf und verarbeitete diese künstlerisch als wuchtig donnernde Elektromusik, wobei die letzten Alben – aufgrund ihrer für :Wumspcut: neuen Ruhe – von der Hörerschaft sehr skeptisch aufgenommen wurden. Mit seinem neuen Werk „Cannibal Anthem“ versucht Ratze-Rudy sich nun auch am Kannibalismus. Die große Magazine loben das Werk im Einheitschor und schmeißen mit Begriffen wie „Zurück zu den Wurzeln“ und „Old-School“ nur so umher. Zwei gute Gründe um skeptisch zu sein... ...und doch darf man einigermaßen beruhigt aufatmen: Die Auseinandersetzung mit dem Menschenfresser-Phänomen ist :Wumpscut: äußerst gut gelungen. Die, durch Texte (diesmal wieder zum größten Teil in deutscher Sprache verfasst), Musik und Artwork erzeugten Bilder und Atmosphären sind weder plakativ noch aufgesetzt. Vielmehr wird man an die Schauer großartiger Underground-Horrorfilme wie „Deep Red“ oder „Nackt und zerfleischt“ erinnert. Rudy Ratzinger hat es geschafft das Thema für sich einzunehmen und es glaubwürdig in kleine Geschichten zu verpacken: Hauptmotive hierbei sind wie immer die Lust, die Angst, das Ungewisse, das Diabolische, das Geheimnisvolle. Dabei verzichtet Rudy stets auf den 100-Prozent-Evil-Holzhammer, mit dem einige andere Projekte ihre Musik plakatieren. Und genau das schätze ich an :Wumpscut: und auch an „Cannibal Anthem“: Es wird Atmosphäre und Intensität erzeugt - ganz ohne unkontrollierte Überladung mit Baller-Beats. Rudy verleiht den Sounds ein Eigenleben, lässt sie sich entfalten und tötet sie nicht durch dauernde Polterattacken ab. Aber trotz gekonnter Intensitätserzeugung kann das Werk nicht vollends überzeugen: Zu viele Lückenbüßer gibt es, zu viele Schwachstellen und zu viel Statik. Dass Rudy Ratzinger kein zweites Bunkertor öffnet habe ich ihm nie übelgenommen. Für mich waren auch die neueren Werke - trotz fehlendem Brachialanteil - leckerer Appetithappen. So ist auch „Cannibal Anthem“ für mich ein recht netter Leckerbissen, wenn auch keine große Überraschung, denn es kann weder back-to-the-roots noch von großartiger Weiterentwicklung die Rede sein. Konstanz statt Unberechenbarkeit. Das mag vielleicht die sicherste Variante sein, künstlerisch allerdings nicht die optimalste...