Ob wir es wollen oder nicht: Künstliche Intelligenz nimmt einen immer größeren Platz in unserem alltäglichen Leben ein. Das muss nicht unbedingt negativ belastet sein. Eine Plattform wie ChatGPT ist in der Lage, inhaltlich und formal richtige Texte zu verschiedensten Themen zu generieren, was eine große Zeitersparnis bedeutet. Es liegt jedoch in der Natur der Sache, dass wir Menschen neuen Technologien erst einmal skeptisch gegenüberstehen, weil sie Traditionen in Frage stellen und Kritiker sich auch ihrer Sicherheit beraubt fühlen. Das war schon bei der Erfindung des Buchdrucks so.

Mit der dystopischen Idee einer von KI regierten Erde lassen sich jedoch die besten Geschichten erzählen. Tineidae aus Warschau und das litauische Projekt Sole Massif gehen auf ihrem gemeinsamen Longplayer "Remnants Of War" sogar noch einen Schritt weiter: Bei ihnen ist die Welt bereits durch einen Krieg zwischen Mensch und Maschinen zu einer unwirtlichen Gegend geworden, auf dem das Individiuum sich durch schwach beleuchtete Katakomben bewegt, jederzeit bereit, gegen die Roboter zu kämpfen.

Um diese Emotionen zu erzeugen, verlassen sich die Acts auf ihre jeweilgen Kernkompetenzen: Beide sind sie Meister des Dark Ambients, wobei Tineidae auf Melodien und üppige Klangteppiche fokussiert ist, während Sole Massif auch die einen oder anderen IDM- und Noise-Elemente in seine Werke einbaut. Ihre Zusammenkunft führte zu einem Synergieeffekt ungeahnten Ausmaßes. Mit "Remnants Of War" gelingt ihnen eine musikalische Reise in eine postapokalyptische Welt, nur hervorgerufen durch die überbordenden Klanglandschaften, die beide Soundfrickler mit großer Liebe zum Detail ausgearbeitet haben.

Das A und O dieses Albums bildet vor allem die großflächigen Drones und Synthieteppiche, die  eine erstaunliche Tiefe besitzen und klugerweise nicht von überpräsenten Rhythmen durchkreuzt werden. Schlagwerk fungiert hier mehr als kleiner Zäsurgeber, hält sich aber die meiste Zeit dezent zurück. Dafür geben satte Bässe und langgezogene Pads den Ton an, manchmal von einigen schneidenden Geräuschen durchkreuzt - besonders gut gelungen ist dies bei "Connection Re-established". Die Sounds lassen sofort Bilder vor dem geistigen Auge entstehen, vor allem die trostlose, dunkle Welt, wie sie bereits in der "Matrix" Trilogie vorzufinden ist, matrialisiert sich einmal mehr im zerebralen Lichtspielhaus.

"Remnants Of War" zitiert dabei Vangelis und die Berliner Schule ebenso flüchtig wie aktuelle Synth-Wave-Strömungen oder die großartigen Sci-Fi-Sounds von Mind.In.A.Box, ohne aber fordernde Rhythmen einzubauen. Das Duo lässt die Songs spannend über den Hörer schweben und fordert daher stets seine volle Konzentration. Tineidae & Sole Massif haben ein Kopfhörer-Album par excellence geschaffen, das seine magische Schönheit entfaltet, wenn man sich dem opulenten Werk mit allen Sinnen hingibt. Es empfiehlt sich daher, "Remnants of War" im angedunkelten Raum und ungestört zu konsumieren.

Nur so lässt sich die Menge an klangtechnischen Ideen von Stücken wie "Data Stream Conjunction" oder "Uncertain Reaction" wirklich raushören, während man gleichzeitig tief in eine Geschichte gezogen wird, die nicht erzählt, sondern nur mittels Töne real wird. Ob selbstdenkende Computersysteme jemals so eine Musik erschaffen können? Denn wenn die neue Technologie uns vielleicht vieles einfacher macht, wird sie wohl nie die Liebe für die Musik so empfinden, wie es die Künstler tun. "Remnants Of War" ist, bei aller KI-Thematik, immer noch ein von Menschen erdachtes, atmosphärisch dichtes Album.