„Ich töte mich jedes Mal aufs Neue, doch ich bin unsterblich und ich erstehe wieder auf; in einer Vision des Untergangs“ - das ist doch mal ein Titel für ein Album: 1994 war dies der Titel der ersten offiziellen Veröffentlichung des Kunstprojektes Sopor Aeternus & the Ensemble of Shadows. Über die Jahre entwickelte sich die persönliche Audiotherapie von Anna-Varney Cantodea musikalisch und inhaltlich immer mehr, den anfänglichen DarkWave/Neofolk Elementen („Ich töte mich..“, „Todeswunsch“) folgten immer mehr rituelle Klänge („The inexperienced..“), Synthesizer wurden durch klassische Instrumente ersetzt und eine Kammerorchester-ähnliche Musik entstand („Dead Lovers Sarabande“, „Songs from..“) die fast in apathischer Starre mündete. In jüngster Zeit (ab „Es reiten die Toten..“) scheint die Therapie aber Erfolge zu schlagen, nicht nur wird die Musik wieder elektronischer, wesentlich eingänglicher und fast schon tanzbar-poppig („La chambre..“, „Les fleurs..“), auch das Auftreten Anna-Varneys und ihre Texte vermitteln ein Gefühl, als ob sie endlich gefunden hat, wonach sie so lange suchte: sich und ihren Platz in der Welt. Deswegen zeigt sie sich häufiger und deutlicher in den Medien (Interviews, Myspace) und baut auch immer mehr schrulligen Humor in ihre Arbeit mit ein. Definitiv eine Person, bei der es Spaß macht, sich mit ihr und ihrem Werk zu beschäftigen! Zu Beginn ihrer Karriere hatte Anna-Varney nicht nur mit ihren inneren Geistern zu kämpfen – seit 1989 existierte Sopor Aeternus mit der Veröffentlichung der „Es reiten die Toten so schnell“ Demo (nur 50 Stück) aber finanziell ging es ihr sehr schlecht und in den ersten fünf Jahren sammelten sich Demos und Videos, ohne veröffentlich zu werden. Das änderte sich mit der Unterzeichnung bei Apokalyptic Vision und „Ich töte mich...“ erschien 1994 mit sieben Demoaufnahmen, die in den letzten Jahren entstanden waren. Die 1000er Auflage war schnell vergriffen und so erschien eine zweite Auflage mit sieben Bonustiteln. Daß es Demoaufnahmen sind erkennt man am Klang der CD, doch dieser Makel ist der einzige den das Werk aufweist – die Keyboards sind schwammig, der Sound wabert und alles klingt einfach recht dünn. Doch was soll's – der Hörer hat es hier mit einem rohen und ungeschliffenen Diamenten zu tun. Alles was Anna-Varney auf dem folgenden „Todeswunsch“ perfektionierte (um damit ihre einzigartige Position im Gothic Bereich zu zementieren) ist hier auch schon zu hören. Die genialen Vocals sind fast ausschließlich in der männlicheren Tonlage (zart und zerbrechlich gehaucht), ab und an wir bereits gejammert. Die hohen und schrillen Laute kommen nur ganz selten vor. Am Gesang wird sich wohl wie bei allen Sopor Aeternus Releases die Spreu vom Weizen trennen – entweder man mag Anna-Varney, oder eben nicht. Musikalisch zeigt sie sich in dieser frühen Phase sehr düster und getragen, alle Sounds entstanden am Keyboard und die Drums kommen auch aus der Konserve. Das macht aber gerade den Reiz dieser Veröffentlichung aus, denn während spätere Alben (und im Vergleich natürlich die Neuaufnahme der „Es reiten die Toten so schnell“) schrullig aber perfekt inszeniert sind, ging hier noch eine Künsterin zu Werke, die tief in der Musik der damaligen Zeit verwurzelt war und sie mit ihrer ganz eigenen Vision zu verbinden. „Travel on breath“ als atmosphärisches Intro (das bereits von der Stimmung her an das 1997er Album „The inexperienced spiral traveller“ erinnert) lässt den Hörer zur Ruhe kommen. Mit „Falling into different flesh“ setzen die in dieser Phase oft präsenten und recht harten Drumsounds ein und das rein instrumentale Stück steigert sich langsam in einen genialen Klangreigen. „Birth – fiendish figuration“ ist das erste Stück mit Gesang und sofort wird man mitgerissen in den Sopor Kosmos (oder eben nicht). Die Texte sind zwar zugegebenermaßen noch nicht so gut ausformuliert wie auf späteren Alben, aber bereits jetzt erkennt man schnell, daß sich die Welt Anna-Varney nicht sehr einfach erschließen lässt. Lieder über die Sinn- und Geschlechtssuche und den erhofften (Frei)Tod zeigen einen zerbrechlichen Musiker, der in den ruhigen Stücken „Tanz der Grausamkeit“, „Im Garten des Nichts“ und „Time stands still“ Einblicke in seine Seele gewährt. Alle drei sind langsame Stücke: nur kleine zarte Melodien, zurückhaltende Drums oder Percussions und Anna-Varneys sanfte Stimme. Schließlich beendet „Do you know my name?“ die eigentliche Spielzeit mit einem Knall. Das „Falling..“Reprise ist für mich das großartigste, das je unter dem Namen Sopor Aeternus erschien. Melodie, Text und Umsetzung ergänzen sich glänzend, man kann sogar von Tanzbarkeit sprechen (ein seltenes Attribut für ein Sopor Aeternus Lied) und dieser dröhnend-verzerrte Bass in Verbindung mit der mitreißenden Umsetzung – einfach unglaublich. Hier kommen auch die Konserven-Drums voll zur Geltung, denn Dank der liebevollen Bearbeitung erscheinen sie sogar geeigneter als ein reales Schlagzeug. „Penance & Pain“ ist ein weiterer Kracher, eine sich ständig wiederholende Abfolge der minimalen Elemente der einfach nicht aus dem Kopf gehen will, „Holy water moonlight“, „Beautiful thorn“(mit Gänsehaut verursachenden Vocals) und das fast schon goth-rockige „The feast of blood“: Das Album ist ein Paradebeispiel für durchgehend hohe Qualität. „Dark delights“ und das auf diese trauernde Stimmung aufbauende „Babtisma“ bringen den Hörer entgültig zum schwelgen. Abgeschlossen werden die über 70 Minuten Musik von der orginal Demoaufnahme von „Birth..“ - noch roher, minimaler und schauriger als die Neuaufnahme. Die CD selbst kommt mit einem phantastischen Booklet daher (das sich je nach Version etwas unterscheidet). Wie auch bei späteren Alben ist bereits hier der künstlerische Aspekt groß geschrieben, die Photos von der Meisterin selbst aber wesentlich gruseliger, abschreckender und für viele Gemüter bestimmt zu schaurig (ganz im Gegensatz zur „neuen“ Anna-Varney). Mein wichtigster Rat an alle Leser ist, sich gar nicht erst an Sopor Aeternus zu wagen: die meisten werden sowieso vom Gesang und eigenwilligen Musikkonzept abgeschreckt. Und den armen Seelen, die Gefallen am Werk von Anna-Varney gefunden haben, verspreche ich eine lange musikalische Sucht. Sie werden lange, anstrengend und teuer kämpfen müssen um die Musik ihr eigen nennen zu können (vor allem, wenn es um die Sondereditionen mit traumhaften Photobänden geht). Und von da an werden sie immer wieder verträumt von Sopor Aeternus reden und nur zu oft auf Unverständnis stoßen. Immerhin wurden vor einiger Zeit die älteren Alben mit neuen Artworks neuaufgelegt und ein jeder hat nun die Chance, sich diesem einzigartigen Künstler zu nähern. „Ich töte mich...“ ist dabei (neben den neueren Releases) durchaus ein Album, mit dem es sich lohnen könnte zu beginnen, da hier noch etwas einfacher zugänglich gearbeitet wurde. Erst wirkliche Cracks können sich dann auf die mittlere Phase des Projektes stürzen.