Ende November ist das Jahr vorbei. So lautet zumindest das inoffizielle Motto der Redaktionen diverser überregionaler Nachrichtenmagazine, die ihre hektisch zusammengeschusterten Jahresrückblicke um den Dezember kürzen, damit die Leser unter dem Weihnachtsbaum nicht lesen können, was sie im Weihnachtsstress womöglich verpasst haben. Dabei wäre es insbesondere aus musikalischer Perspektive angebracht, den Abgesang auf das Jahr 2016 nicht vorschnell anzustimmen, ohne dem brandneuen Album „Anti“ des sympathischen Synthpop-Projekts „Rename“ gelauscht zu haben. Denn hier gibt sich ein Anwärter auf den Titel „CD des Jahres“ die Ehre, der manchem Output etablierter Bands mehr als nur das Wasser reichen kann. Einige Jahre hatte Marcus Fellechner an seinem dritten Full-Time Album getüftelt, neue Sounds ausprobiert, Remixe für befreundete Bands angefertigt, aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen in seine Textkompositionen einfließen lassen und nebenbei auch noch das Mini-Album „Evolution“ sowie die Jubiläumsedition seines Debüts „Culture“ in einer Expanded-Version veröffentlicht. Nun erblickt zehn Jahre nach dem enorm tanzbaren Vorgänger „Energize“ ein sowohl klanglich, als auch thematisch andere Wege einschlagendes Werk das Licht der Welt, das in seiner bahnbrechenden, gleichwohl fragilen Eleganz nur das Attribut „monumental“ verdient. 70 Minuten dauert die spannende Achterbahnfahrt durch den Kosmos moderner elektronischer Musik, die dabei aber stets retrospektive Facetten offenbart. Natürlich sind es die Pet Shop Boys, erklärte Lieblingsband des Rename-Protagonisten, die immer wieder durchscheinen, sei es bei den einprägsamen, aber niemals simpel klingenden Refrains, sei es bei den anspruchsvollen Lyrics, für die das englische Feuilleton weiland den Begriff „sophisticated“ in Zusammenhang mit Neil Tennant und Chris Lowe prägte. „Mainstreaming - the hardware decides - what’s hot and what’s not“ hätte in dieser Form auch Eins zu Eins aus der Feder Tennants stammen können, setzt sich das britische Duo doch ebenfalls seit geraumer Zeit selbstironisch mit der auf Algorithmen basierenden selektiven Wirklichkeit auseinander. Marcus spannt im letzten Song des Albums, dem absoluten Ohrwurm „I Only Wanted To Be An Orchestra“, den Bogen vom überwiegenden Fluch und seltenen Segen des dauerhaft verfügbaren Musik-Streaming-Angebots über das oftmals einsame Arbeiten an neuen Melodien und der daraus resultierenden Unsicherheit, wie die Resultate der eigenen Anstrengungen beim treuen Hörer ankommen mögen. Zu einem zerbrechlichen Gesang ertönen treibende Beats, zerstörerische Soundeffekte und doch löst sich am Ende alles in harmonische Akkordfolgen auf - ein vertontes intrapersonales Gefühlschaos. Wunderbar! Ein weiterer Hit verbirgt sich hinter dem Titel „The Boxer“. Wobei der Begriff „Hit“ nicht im klassischen Sinne verstanden werden darf, also als schmissige Aneinanderreihung möglichst einprägsamer Verse - Chorus - Verse - Chorus - Bridge - Chorus - Chorus Folgen, die auf Radiotauglichkeit getrimmt wurden. Nein, „The Boxer“ ist der wohl abwechslungsreichste Song des Albums. Eine klirrende Synthline eröffnet, der pochende Backing Track leitet die tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Irrungen und Wirrungen einer zusehends digitalisierten politischen Welt ein. Da verkriecht man sich als Hörer doch lieber in eine kleine Nische und sucht Schutz im Privaten. Dorthin begleitet wird man von Marcus im Song „Postfuneral“, einer gefühlvollen Ballade, die mutmaßlich seinem Vater gewidmet ist. Die Melancholie befindet sich an dieser Stelle auf ihrem Höhepunkt und generell herrscht gegenüber dem durchweg lebensfrohen „Energize“ eher gedämpfte Stimmung - nicht jedoch ohne Ausreißer, wie beim wohl poppigsten Stück der Platte, der dritten Single „Firewall“, die als Best-Of-Extrakt aus „Culture“ und „Energize“ firmieren darf. Der nächste Hit! Die eingangs erwähnten Pet Shop Boys brachten Anfang des Jahrtausends eine Compilation mit dem Titel „Pop.Art“ auf den Markt. Auf CD1, POP, sammelten sich vor allem charttaugliche Radiohymnen der Bandgeschichte, während auf CD2, ART, die künstlerische Seite des Duos fokussiert wurde. Über die Zuteilung so mancher Songs konnte man trefflich streiten, doch „Rename“ vereint Pop und Art auf nur einer CD nahezu in Perfektion. Die Pop-Seite von „Anti“ besteht aus den ersten beiden Singles „Avalanche Of Fear“, „Touch“ sowie „Firewall“, „A Love Butterfly Effect“ und I Only Wanted To Be An Orchestra. Art wird repräsentiert von „The Boxer“, „Postfuneral“, „My Neighbour Is A Sculpture“, „Arithmetic“. Nur bei „Still The Same Revolution But Only Without Me“ ist die Zuordnung nicht so einfach. Alleine der lange Songtitel (ganz PSB-like) müsste jedoch den Ausschlag zugunsten der Kategorie „ART“ geben. Leider sind die Jahresrückblicke bereits geschrieben, ansonsten stünde „Anti“ nicht nur auf meiner persönlichen Liste der besten Alben des Jahres 2016 ganz weit oben. Was sagte Rudi Völler anlässlich des selbsterklärten Karriereendes Marcell Jansens? „Wer sowas macht, hat den Fußball nie geliebt.“ Für diese CD gilt ähnliches: Wer dieses Album nicht kauft, hat den Synthpop nie geliebt.“