Wo fängt man bei vorliegendem Werk am Besten an? Bei der Band oder dem Film? Ich versuche es mit "The seashell and the clergyman", jenem französischen Kurzfilm aus dem Jahre 1928, der als erster surrealistischer Film der Geschichte gilt. Regie führte damals Germaine Dulac nach einem Drehbuch aus der Feder von Antonin Artaud, das weniger durch eine stringente Handlung gezeichnet ist als durch eine Aneinanderreihung symbolträchtiger Sequenzen. Geschehen, Beteiligte und all die interessanten Anekdoten rund um dieses Werk, wie die Entzweiung zwischen Artaud und Dulac oder die Bedeutung des Films für die Arbeit und Forschung damaliger Psychoanalytiker, gehören aber meiner Meinung nach nicht in diesen Text, also schnell weiter zur Band.

In the Nursery hat weitaus weniger Jahre auf dem Buckel, aber 1981 als Gründungsjahr ist dennoch beeindruckend, besonders für ein Musikprojekt. Die Brüder Klive und Nigel Humberstone gelten mit ihrer Arbeit an In the Nursery zudem als Mitbegründender der Neoklassik. Nach fast 38 Jahre Bestehens ist der Katalog, den man vorweisen kann, dementsprechend enorm und bei In the Nursery kann man insbesondere zwei Kategorien unterscheiden: Alben und Soundtracks. Denn seit Jahren schaffen die Brüder sehr eigene Visionen von Soundtracks für Stummfilmklassiker, ordnen ihre reguläre Vorgehensweise der jeweiligen Stimmung des Filmes unter und konnten zuletzt 2015 mit ihrer Vertonung von "The fall of the house of Usher" absolut überzeugen. Mir persönlich wird aber wohl auf ewig der Soundtrack zu "The cabinet of Dr. Caligary" der Liebste sein. Die Frage bei all diesen Soundtracks ist nun aber nicht, ob sich musikalisch Umwerfendes findes lässt, sondern ob In the Nursery eine Klangwelt schufen, die den Bilderreigen stimmig begleitet. Für sich genommen sind die 17 Einzeltracks vorliegenden Werkes nur bedingt beeindruckend - ein Soundtrack eben, kein Album im eigentlichen Sinne. Hits fehlen und ich wäre überrascht zu hören, dass jemand einzelne Lieder in seine Playlisten für den Alltag aufnimmt. Doch zusammen mit den 90 Jahre alten Bildern des Filmes ergibt sich ein wunderbares Gesamtkunstwerk, das nicht nur Fans von In the Nursery gefallen wird, sondern auch Cinesiasten, die "The seashell and the clergyman" neu erleben wollen.

Sollte die eigene Heimvideothek den Film nicht beinhalten so lässt er sich (derzeit) recht schnell auf Youtube finden - spannend ist bei der Sichtung auch ein Vergleich zwischen den unterschiedlichen Soundtracks, die in den Jahren entstanden. Mir gefällt bei vorliegender Interpretation, dass In the Nursery nicht auf große Gesten, Dramatik und Kraft setzen, es gibt keine schrägen Misstöne oder Experimente, die die Aufmerksamkeit von den Bildern lenken - vielmehr vertonen sie die surrealen Bilder eher sanft und traumgleich unwirklich. Es wurde vollständig auf Drums verzichtet, die Elektronik schwebt zusammen mit den natürlichen Instrumenten dahin und der Film entwickelt im Zusammenspiel eine melancholische, leicht bedrohliche Wirkung.

Eine tolle Leistung und eine Menge Mut, ein eher unscheinbares Klangbild zu veröffentlichen. Ich hoffe, dass die Fans und Interessierte dieses Wagnis belohnen. Alles in allem schufen In the Nursery die für sich perfekte musikalische Untermalung eines eigenwilligen Filmes - damit bleiben die Brüder ein Garant für anspruchsvolle Klangkunst etwas abseits abgelaufener Pfade.