„After all the years No:Carrier still are Cynthia Weichselberger and Christian Wirsig” weiß das Booklet der CD “Between the lines” zu verkünden. Da muss man sich ein achselzuckendes Schmunzeln nicht verkneifen. „After all the years”? Habe ich da etwas verpasst? Bis vor wenigen Tagen, als ich das Album aus dem Briefkasten fischte, war mir die Band gänzlich unbekannt. Zu meiner Ehrenrettung sei angemerkt, dass sich die Diskographie, bestehend aus dem Debütalbum „My Own Dream“ sowie einigen Demotapes, relativ bescheiden ausnimmt, so dass nicht viele Leser dieser Rezension mir gegenüber einen Informationsvorsprung besitzen dürften. Aber falsch ist es ganz sicher nicht, unvoreingenommen und in gespannter Erwartungshaltung den Klängen aus dem Überraschungspaket zu lauschen. Zunächst kapriziert sich die Aufmerksamkeit jedoch nicht auf die abwechslungsreichen Synthieparts sondern auf die Stimme von Sängerin Cynthia. Deren Qualität wäre mit dem Attribut „vielseitig“ noch weit untertrieben charakterisiert. Beim Opener „Casting The First Stone“ noch mit gebremstem Volumen operierend, erreicht Cynthia beim balladesken „Inside my brain“ beeindruckende Höhen, ohne dabei allerdings nervig klirrend zu klingen. Auch im weiteren Verlauf der knapp sechzigminütigen Demonstration wahrer Sangeskunst werden alle Register gezogen: mal betörend flüsternd, mal tragisch, selten trällernd und immer mit einem warmen Unterton, der Nähe und Vertrautheit vermittelt. Die stilistische Vielfalt spiegelt sich auch in der musikalischen Begleitung wieder. Hier pendeln No:Carrier zwischen Electropop, Wave, dezenten Gothic-Einflüssen und bisweilen sogar Trip-Hop. Ein sehr experimentelles Werk, dessen Tiefe sich nicht gleich beim ersten Durchlauf offenbart. Wer hingegen die Geduld aufbringen kann, die Musik in einer ruhigen Stunde und ohne jede Ablenkung durch quatschende Mitmenschen bewusst zu genießen, der dürfte zumindest zu dem Urteil gelangen, dass hier eine unterbewertete Band aus den Lautsprechern tönt, deren Vielseitigkeit bisweilen aber auch mächtig anstrengend sein kann. Die flotteren, poppigen Songs bleiben nicht im Ohr hängen, da sie wahlweise im Refrain schwächeln oder um störende Soundeffekte aufgeladen wurden. Manchmal beschleicht den Hörer der Wunsch nach Reduktion und nach einfacheren, gradlinigeren Melodien. Das Album funktioniert nur als Ganzes – die auf der Homepage des Labels kostenlos angebotenen Singles „Cask of wonders“ und „Sin of regret“ taugen zum Kennenlernen der facettenreichen Band allenfalls bedingt. Die Bewertung des eigenwilligen Potpourris gestaltet sich nicht einfach. Man könnte das Umherirren zwischen den Stühlen mit 2 Punkten abtun oder die gebotene Vielfalt und Kreativität mit 6 Zählern honorieren. Ich platziere mich zwischen den Extremen und sehe den 5. Punkt als Bonus für das große Herz und die Leidenschaft, die No:Carrier spürbar in ihre Musik investieren und zwischen dessen Spannungsfeldern jeder einzelne Song seine ganz eigene Magie entwickelt. Spannend dürfte sein, ob sich die Band künftig auf einen Sitzplatz einigen und damit die Schubladen zur Einordnung der Musik aufmachen wird oder auch weiterhin den spannenden Balanceakt auf dem zwischen Stühlen aufgespannten seidenen Faden wagt.