Das Triumvirat der goldenen Future-Pop-Ära in den frühen und mittleren 2000ern setzte sich aus Apoptygma Berzerk, Covenant und VNV Nation zusammen. Ihr Wirken beeinflusste und formte die Schwarze Szene nachhaltig. In ihren Windschatten haben sich einige Bands und Projekte getummelt, denen teilweise wenig bis gar keine Beachtung geschenkt wurde. Dabei gab es auch in der "zweiten Reihe" einige hochinteressante Musiker. Wie Charles Rehill. Der Amerikaner machte 2001 mit gerade mal Anfang 20 auf sich aufmerksam: "Carthasis" bestach durch eine bereits klare musikalische Vision, die sich vor allem durch Rehills traurig-distanziertem Gesang auszeichnet. Das Album, übrigens abgemischt von Tom Shear alias Assemblage 23 (der im selben Jahr mit "Failure" einen weiteren Meilenstein der Szene veröffentlichen sollte), flog aber leider etwas unter dem Radar.
Doch das lag nicht am Longplayer selbst - dieser war absolut oberstes Regal. Vielmehr hatte der Mann das Pech, dass seine Plattenfirma damals die Grätsche gemacht hat und eine geplante Europatournee ins Wasser fiel. Der vielversprechende Newcomer wurde Opfer widriger Begleitumstände. Die nachfolgenden Werke "Eviscerate" und "Apparition" fanden demnach kaum Beachtung; Lost Signal verschwand sang- und klanglos von der Bühne. Erst im vergangenen Jahr präsentierte Rehill wieder neues Material. Nun veröffentlichte der Amerikaner mit "Anatomy Of Melancholy" eine Platte, von der man nichts erwartete, aber reichlich beschenkt wird.
Mit der selbst auferlegten Tradition hat der Musiker gebrochen. Der treibende Future-Pop von einst gehört der Vergangenheit an. Das machen bereits die ersten Sounds des Albums deutlich. "Ascendance" fährt zerschnipselte Frauengesänge auf, die eine zerbrechliche Atmosphäre heraufbeschwören. Das Stück bildet den perfekten Eintritt in des Klangtüftlers musikalische Idee. Es dominieren intelligent und anspruchsvoll gesetzte Rhythmen, aber auch kunstvoll gelegte Sounds. Diese können wie in "Bridges Burning" auch in seltsam gegenläufigen Basslinien auftauchen und zusammen mit den straighten Beats ein herausforderndes Hörerlebnis bilden.
Man erkennt deutlich, dass "Anatomy Of Melancholy" (den Titel hat Rehill einem Buch aus dem 17. Jahrhundert entnommen) nicht mehr den elektronischen Wohlklang sucht, sondern einen eigenen Weg und neuen Blickwinkel auf die synthesizerbasierte Musik proklamiert. Wo früher Charles Rehill mit Beats und griffigeren Melodien um sich schmiss, vermeiden die aktuellen Kompositionwn jegliche Form von Hyperaktivität und Omnipräsenz. Dafür glänzt das Werk durch eine intensive, unter der Oberfläche brodelnde Atmosphäre.
Besonders bei "Trail's End" bricht der Amerikaner tradierte Songschemata auf, ohne dabei zu brachial zu werden. Durch auffällig redundante Gesänge entsteht ein hypnotisches Stück voller unterschwelliger Schönheit. Das gleiche gilt auch für "By A Thread", das in seiner zurückhaltend weltschmerzlichen Art wie eine ruhigere Variante diverser Neuroticfisch-Kompositionen anmutet.
Es ist unüberhörbar: Lost Signal ist gereift und zeigt sich auf "Anatomy Of Melancholy" in seiner ganzen Pracht. Die Umwege, die Charles Rehill gehen musste, scheinen sich am Ende positiv auf sein neuestes Werk auszuwirken. Denn so schade es auch ist, dass Lost Signal derart unstet im Musikzirkus auftrat und zunächst so gut wie niemand Notiz vom Projekt nahm, so sehr hat Rehill seine künstlerische Idee nicht aus den Augen gelassen. Bleibt nur zu hoffen, dass wir nicht wieder 15 Jahre auf ein neues Werk warten müssen.